Spätestens seit Miley Cyrus in ihrem Video zu „Wrecking Ball“ ausser roten AirWair 1460 Boots von Dr Martens gar nichts trug, sind die Stiefel erneut auf dem Vormarsch. Dabei waren sie eigentlich nie weg.
1967, die Welt trägt bunt, in den USA singt Scott McKenzie „Be sure to wear flowers in your hair“, und in England muss Keith Richards wegen Drogenbesitzes ein Jahr in den Knast. Auf der Insel spürt man nicht viel von diesem „Sommer of Love“, dieser Zeit, die so vieles verändern soll. Und so ist sich dieser braun gelockte, 22-jährige Junge gar nicht bewusst, was er da lostritt, als er in einem Haushaltswarengeschäft ein Paar orangefarbene Gummistiefel kauft. Der Junge ist Pete Townshend, seine Band The Who und die Boots, die nach ihrem Auftritt auf dem Konzert im englischen Irgendwo ihren Feldzug antreten, kommen von Dr. Martens.
Weg aus der Militärbarracke
30 Jahre früher bricht sich ein junger, deutscher Soldat beim Skifahren seinen Fuss. Es hilft alles nichts, die Militärstiefel müssen weg. Der junge Klaus Maertens bastelt also drauflos und nutzt dafür, was ihm in die Finger kommt: liegengelassenes Material der Air-Force zum Beispiel, das er aus den Trümmern des zerbombten Münchens fischt. Sein Freund Herbert Funck hilft ihm dabei, die Sohle so mit der Unterseite zu versiegeln, dass dazwischen Luftkammern entstehen, die den Fuss zusätzlich stützen und polstern. Der Freund wird schliesslich zum Business-Partner und das Luftpolster zum Verkaufsargument. Bis Mitte der 50er verfeinern Maertens und Funck ihren Boot und verkaufen diesen vom Postboten bis zur Hausfrau an jeden, der sich nicht mehr mit unbequemem Schuhwerk zufrieden geben will. Besonders letztere reissen die Schuhe aus den Regalen, was die Verkäufe an Frauen über 40 auf bis zu 80 Prozent schnellen lässt. Ein Umstand, der es Maertens und Funck erlaubt, ihre Produktion von der Militärbarracke in eine richtige Fabrik zu verlegen.
Dr Martens – Vom Arbeiterschuh zum Kulturstück
In München läuft für Maertens und Funck also alles rund. So rund, dass sie sogar damit beginnen, richtige Werbeanzeigen zu schalten. Eines dieser Blätter flattert unverhofft auf den Tisch von Bill Griggs, der in England mit Brüdern und Sohn R. Griggs & Co. Ltd führt – ein Familienunternehmen, in dessen Stiefeln ganz England arbeitet. Ein Gespräch, ein Händeschütteln und eine Exklusivlizenz später machen sich die Griggs-Männer an die Veränderungen, die Dr Martens unverkennbar machen sollen: ein angepasster Absatz, die typischen gelben Nähte und die mit dem neuen Namen bedruckte Schlaufe. Am 1. April 1960 kommt der „AirWair 1460“ in den Verkauf. Der Preis: zwei Pfund. Der Slogan: to make working men’s footwear comfortable. Und der Erfolg? Durchschlagend. Wer in England nicht am Schreibtisch arbeitet, trägt ganz selbstverständlich seine Docs. Irgendwann entdecken englische Arbeiterkinder die Stiefel für sich, scheren sich die Haare kurz und versammeln sich in damals noch in Politik und Gesinnung diversen Gruppen. An den Füssen mit dabei: derselbe Boot, den kurze Zeit später The-Who-Frontmann Pete Townshend aus dem Regal einer Ladenkette zieht.
Geliebt von allen
Nach The Who infiltriert der eigentliche Workboot Dr Martens auch Bands wie die Sex Pistols, The Slits oder The Clash. Vom Rock’n’Roll findet der Schuh seinen Weg in die Punk-Szene, von wo er bis zu den Mods, Goths und Grebos watschelt. Die Familie Griggs steigert 1975 ihre Produktion von 1’000 Paaren pro Woche auf über 6’000. Das Gerücht, pro Kunde sei pro Kauf nur ein Paar Boots erlaubt, kurbelt den Verkauf weiter an. Ein Marketing-Coup, der aufgeht. Als das Paar Wayne und Geraldine Hemingway schliesslich damit beginnt, Second-Hand-Kleidung und darunter auch individualisierte Doc-Boots auf dem Londoner Camden Market anzubieten, bekommt die Marke erneut Auftrieb. Als hätte sie das nötig, bringen doch in England tourende US-Bands die bequemen Treter über den Atlantik. In dreckverschmierten Dr. Martens feiern Gruppen aller Farben ihre Bands auf Festivals, wo die derben Boots bis heute ein weiteres Zuhause gefunden haben. Mit den 90ern eröffnet die Griggs-Familie den ersten Dr Martens-Store im Londoner Covent Garden und bricht 1998 mit 10.5 Millionen Paar Schuhen pro Jahr den eigenen Produktionsrekord.
Millennium und Millennials
Das Millennium steht an, und die Menschen haben mit apokalyptischen Szenerien und Lebensmittel-Hamsterkäufen anderes im Kopf als Schuhe. Dr Martens feiert seinen Vierzigsten ohne Kerzen: Die Krise fordert die Schliessung aller 16 Fabriken in England und die Auslagerung der Produktion nach Asien. Die Entscheidung ist hart, rettet das Unternehmen jedoch vor dem Bankrott. Langsam wühlt sich Dr. Martens durch die Krise und zwängt sich wieder an die erste Position im Schuhregal. Kollaborationen mit Yohji Yamamoto, dem englischen Kaufhaus Liberty oder der neuen Muse Agyness Deyn geben neuen Aufwind. 2014 schüttet der englische Investmentfonds Permira 300 Millionen Pfund auf den Tisch und übernimmt dafür Dr. Martens. Die Firma gibt richtig Gas: Designer-Kooperationen, eine Bekleidungslinie, e-Commerce und weltweite Neueröffnungen eigener Stores treiben den Umsatz in die Höhe und bringen den Kult-Treter an die Füsse einer Generation, die mit Dr Martens eher eine nackte Miley Cyrus assoziiert denn The-Who-Rocker Pete Townshend.
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