Wer will schon dorthin, wo jeder ist. Maximilian Reich lässt abgelutschte Destinationen links liegen und macht sich auf an die Orte, wo Pauschaltouristen so selten sind wie Taschen mit richtigem Zertifikat auf dem chinesischen Markt. Wohin es Reich dieses Mal verschlägt? Nach Demir Kapija.
Es kann gut sein, dass Sie in diesem Text ein paar Fehler finden. Ich bitte dies zu entschuldigen. Der Grund dafür ist ganz einfach: Ich bin knacke-hacke. Breit wie ein russischer Türsteher, voll wie ein Oktoberfest-Zelt, dicht wie eine Schweizer Taucher-Uhr. Oder anders gesagt: Ich bin in Demir Kapija. Kennen Sie nicht? Macht nichts, bis vor kurzem hätte ich das auch noch für einen türkischen Schnaps gehalten. Und genau deshalb ist es der ideale Ort für eine Reisegeschichte, schliesslich schreiben die ja schon alle anderen Zeitungen über die klassischen Traumorte wie Marrakesch und Santorini, hat mein Chefredakteur gesagt. Ich würde wahnsinnig gerne für diese anderen Zeitungen arbeiten, hab ich gedacht – und bin vor vier Tagen in ein Flugzeug von Edelweiss Air gestiegen und von Zürich nach Skopje geflogen, der Hauptstadt von Mazedonien. Von dort sollte es am nächsten Tag mit dem Bus weitergehen in das kleine Dorf kurz vor der griechischen Grenze. Aber alles der Reihe nach…
Die sympathischste Flagge der Welt
Eine Reise nach Mazedonien ist, als wolle dir jemand beim Sex den Finger in den Po stecken. Ich hatte ein mulmiges Gefühl und keine Ahnung was auf mich zukommt. Es kann super werden oder einfach scheisse. Nachdem ich in Skopje gelandet bin, steige ich vor dem Flughafengelände in ein Taxi und fahre für 20 Euro zu meinem Hotel in der Innenstadt. Wer jemals nach Skopje kommt – warum auch immer – dem empfehle ich das „Hostel 42“. Es steht im angesagten Szeneviertel „Debar Maalo“, nur ein paar Fussminuten vom Hauptplatz sowie der Altstadt entfernt, und ein Einzelzimmer kostet bloss 17 Franken pro Nacht. Der Besitzer ist ein zwei Meter großer ehemaliger Volleyballspieler, der irgendwann mal in den 80er Jahren bei den Olympischen Spielen teilgenommen hat und nun mit gleichem Eifer versucht, der weltbeste Gastgeber zu sein. Als ich durch das Eingangstor trete und meinen Trolley in den Innenhof schiebe, klopft er mir so überschwänglich auf die Schulter, dass ich befürchte, er hat mir das Gelenk ausgekugelt. „Ah, du bist bestimmt Maximilian? Herzlich willkommen in Skopje. Ich wollte gerade Joggen gehen. Magst du mitkommen?“
Joggen steht ganz oben auf meiner Top-5-Liste der dämlichsten Aktivitäten, die es auf der Welt gibt. Dahinter kommen bloss noch:
2. Hunde-Yoga
3. Das Bügeln von Socken
4. Das Umarmen von Bäumen
5. Das bayerische Fingerhakeln
Also schüttle ich den Kopf und lehne dankend ab. „Ich bin seit 6 Uhr auf den Beinen und zu erschöpft.“
„Ah, Maximilian, nichts muntert dich besser auf als eine Runde zu laufen.“ Dann lacht er und renkt mir mit einem zweiten Schlag auf die Schulter das Gelenk wieder ein.
Eigentlich ist es kein Wunder, dass die Menschen hier so nett sind. Schliesslich hat Nordmazedonien ja auch die sympathischste Flagge der Welt. Eine strahlende Sonne auf rotem Hintergrund. Wie unfreundlich können da schon die Einheimischen sein? Bloss eine Flagge mit dem Kussmund-Emoji darauf wäre wohl noch liebenswerter.
Mutter Theresa vom Wurst-Imbiss
Ich verstaue meinen Koffer in meinem Zimmer und mache mich auf zu einem kleinen Erkundungsspaziergang. Das Wahrzeichen der Stadt ist die Steinbrücke, die bereits von den Römern errichtet wurde. Sie führt über den Vardar und verbindet heute die moderne Grossstadt mit dem Alten Bazaar. Früher war er der grösste Bazar im Balkan. Heute ist das Viertel durchzogen von schmalen Gassen, in denen sich Cafés und Schmuck-Geschäfte nebeneinander reihen, und für einen Moment könnte man meinen, man sei vielleicht ins falsche Flugzeug gestiegen und aus Versehen in Pisa ausgestiegen. Nach 300 Metern hört das historische Viertel aber auch schon wieder auf, und man steht wieder auf dem Boden der Realität – oder besser gesagt auf dem Mazedonia-Platz, wie der Hauptplatz heisst. Das Zentrum bildet eine enorm grosse Statue eines Reiters, um den sich moderne Kaufhäuser und Restaurants im Kreis aufgestellt haben. Hier kann man eine leckere Pizza für 4 Franken essen und anschliessend einen Cappuccino trinken für 1.50 Franken. Im Gegensatz zu anderen Städten im Osten wie Krakau und Prag sind die Touristen noch nicht über Skopje hergefallen. Hier kann man noch billig essen und in Ruhe durch die Strassen spazieren, ohne sich für seine Landsleute in Birkenstocksandalen zu schämen und von Souvenirhändlern beläst…
„Sonnenbrille?“
„Hä?“ Ich drehe mich um. Neben mir steht ein junger Mann und hält ein Dutzend Sonnenbrillen in der Hand, die er mir entgegen streckt. „Ich mach dir einen guten Preis“, sagt er auf Englisch.
„Es scheint doch gar keine Sonne.“
„Klar scheint Sonne.“
„Wo ich herkomme, nennen wir das Nieselregen.“
„Woher kommst du?“
„Deutschland.“
„Ich hab einen Vetter in Hannover.“
„Ah“, sage ich“
„Starke Sonne in Hannover.“
„Naja…“
„Seit wann bist du in Skopje?“
„Heute angekommen.“
„Herzlich willkommen in Mazedonien.“
„Vielen Dank.“
„Hast du die Steinbrücke schon gesehen?“
„Jup.“
„Und den Alten Bazaar?“
„Jup.“
„Und das Haus von Mutter Theresa?“
Ich stutze. „Die heilige Mutter Theresa aus Kalkutta?“
Die Sonnenbrille nickt. „Sie ist hier in Skopje geboren. Da hinten hat sie gewohnt.“ Er deutet auf einen Foodtruck.
„In dem Wurst-Imbiss?“
„Quatsch, komm mit.“
Der Strassenverkäufer führt mich näher heran und deutet auf vier goldene Winkel im Fussboden neben dem Wurst-Imbiss. Sie zeichnen die Umrisse, wo das Haus stand, in dem einst Mutter Theresa geboren ist. „1963 hat ein Erdbeben praktisch die komplette Stadt zerstört. Alte Häuser gibt es deshalb kaum noch.“
„Krass.“
„Du solltest dir morgen den alten Bahnhof angucken. An der Aussenfassade hängt noch die Bahnhofsuhr und zeigt an, um wie viel Uhr das Beben losging und sie stehengeblieben ist.“
„Ich fahre morgen leider schon weiter nach Demir Kapija.“
Demir Kapija scheint das geografische Pendant zu einem Gesichtstattoo zu sein, denn jeder schüttelt den Kopf und fragt: Warum tust du das? Was meine persönliche Reisefreude jetzt nicht unbedingt steigert. Vor allem weiss ich ja selber nicht, was ich dort eigentlich soll. Daher liefere ich jedes Mal eine andere Antwort.
Der nette Hotel-Besitzer: „Was willst du denn in Demir Kapija?“
Ich: „Ich bin Kronzeuge in einem Mafia-Prozess und soll mich hier verstecken bis zum Prozess.“
Die Dame am Ticket-Schalter des Busbahnhofs fragte ungläubig nach: „Demir Kapija?“
Ich: „Ich will dort die Asche meines Opas verschütten. Ich mochte ihn nicht besonders.“
Mein Freund, der Sonnenbrillen-Verkäufer: „Nach Demir Kapija? Wieso?“ Und fügt dann noch hinzu: „Nimmst du lieber eine Sonnenbrille mit.“
Ich: „Ich bin Profi-Boxer und bereite mich dort auf meinen Kampf vor.“
Die Antwort, die ich daraufhin bekomme, ist immer die gleiche: „Ah ja.“ So wie meine Mutter es sagte, als ich damals ankündigte, mir die Haare blond färben zu wollen. So ein „Aha“, das eigentlich bedeutet: „Na, du wirst schon wissen, was du tust.“
Natürlich hab ich es damals nicht gewusst – und ich weiss es auch heute nicht.
Immer noch besser als Stierhoden
Am nächsten Morgen um 8 Uhr fährt mich also ein Bus nach Demir Kapija. Die Fahrt dauert knapp zwei Stunden und kostet 6 Franken. Als der Bus am Ortseingang auf einem Schotterplatz hält, bin ich der einzige, der aussteigt. Der Ort hat 4’500 Einwohner. Es gibt zwei oder drei kleine Supermärkte und ein paar Cafés und Wettbüros, die sich entlang der Fussgängerstrasse reihen. Links davon verlaufen die Zuggleise, und rechts der Meile stehen ein paar Wohnhäuser. Mehr gibt es nicht zu sehen. Oder etwa doch? In der Ferne haben sich drei Menschen versammelt – mit den Foto-Handys in der Hand stehen sie an einem Geländer. Welche Sehenswürdigkeit dort wohl sein mag? Das Stadt-Wahrzeichen? Die mazedonische Version des Eiffelturms? Oder eine Kunstinstallation? Oder hat sich hier vielleicht ein mazedonischer Banksy über Nacht an einer Wand verewigt? Nope. Es ist ein toter Hund in einem Bach, der an ein Auffanggitter gespült wurde. Wie pittoresk.
Der Anblick der vierbeinigen Wasserleiche ist zu viel für mich. Ich hab genug gesehen und gehe in mein Hotel. Nach einer heissen Dusche sitze ich mit einem Handtuch um die Hüften auf meinem Bett und google, was man hier machen kann. Wie sich ziemlich schnell herausstellt: nichts, ausser einer Weinprobe.
Offenbar bedeutet „Demir Kapija“ übersetzt soviel wie „Eisernes Tor“ und hat seinen Namen daher, weil in dieser Region zwei Klimazonen aufeinander prallen. Dadurch ist der Ort für den Weinanbau besonders geeignet. Ich hasse Wein. Mit meiner Ex-Freundin war ich an Silvester in einem Restaurant, wo alle Gäste das gleiche Menu aufgetischt bekamen. Es gab zunächst karamellisierten Chicorée und anschliessend Thunfischsteak auf Artischockenpüree. Dazu wollte ich eine Pepsi. Und meine Ex wollte einen neuen Freund, so peinlich war es ihr, mit einem Proleten wir mir am Tisch zu sitzen. Und nun hat ausgerechnet dieser Prolet heute Abend um 18 Uhr einen Termin für ein Wein-Tasting.
Es hätte ja auch schlimmer kommen können, denke ich mir, als ich am Abend im Restaurant des Weinguts „Royal Winery Queen Maria“ sitze. Der Ort hätte auch berühmt sein können für seine gekochten Stierhoden. Dann müsste ich die jetzt essen. Angenehm ist es trotzdem nicht. Es gibt wahrscheinlich nichts Traurigeres als ein Wein-Tasting für eine Person. Hat ein bisschen was von „Dinner for One“, wie ich da so alleine am Tisch sitze und der Kellner einen Wein nach dem anderen einschenkt. Zunächst ein Chardonnay von 2016. Dazu erklärt der Sommelier ein paar Sätze, und ich gucke ihn an wie früher meinen Mathe-Lehrer und denke bloss: „Hoffentlich stellt er mir keine Frage.“ Er giesst mir einen Schluck ein und verschwindet zum Glück wieder. Ich nehme das Glas und halte es unter meine Nase, weil ich mal gesehen habe, dass man am Wein riechen muss. Also rieche ich. „Hmhm… Wein.“ Dann schwenke ich mein Glas, weil ich mal gesehen habe, dass man Wein schwenken muss. Also schwenke ich. Dabei schwappt mir ein bisschen Wein auf die Tischdecke. Als nächstes bringt der Kellner einen Sauvignon Blanc. „Aus welchem Jahr?“, frage ich – bloss um vorzugeben, ich sei interessiert und fachkundig.
„Ebenfalls von 2016.“
„Ah! Wie interessant.“
Das Spiel wiederhole ich auch beim dritten Wein, einem Rosé. Bei der vierten Runde, einem Rotwein, bin ich schon gehörig angedudelt und sage lieber nichts mehr aus Angst zu lallen. Seelig grinsend sitze ich auf meinem Platz und lausche den Worten des Kellners. Und während er mir mein Glas vollschenkt, denke ich mir: Eigentlich ist es in Demir Kapija ja doch ganz nett. Prost.
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