Was bedeutet eigentlich Familie? Sollten wir das Konzept Familie neu denken oder gar abschaffen? Diesen Fragen geht die Ausstellung „Burning Down the House: Rethinking Family“ im Kunstmuseum St. Gallen nach. Kuratorin Melanie Bühler stand uns Rede und Antwort.
FACES: Kurz und knapp: Wie würdest du jemandem den Inhalt der Ausstellung erklären, der/die noch nichts darüber gelesen oder gesehen hat?
Melanie Bühler: „Burning Down the House: Rethinking Family“ beschäftigt sich kritisch und vielschichtig mit Familie – als gelebter Alltag, gesellschaftliche Institution und wirtschaftliche Realität und spekuliert über ihre Zukunft. Gezeigt werden mehr als 35 internationale künstlerische Positionen sowie ausgewählte Arbeiten aus der Sammlung des Kunstmuseums St.Gallen. Sie thematisieren die (Kern-)Familie und zeigen verschiedene Arten des Familienlebens jenseits der typischen Vorstellung, die sich so grundlegend in unserer Gesellschaft eingeschrieben hat.
FACES: Wie bist du auf das Thema Familie als Ausstellungsinhalt gekommen?
Melanie Bühler: Für die Wahl der Familie als Thema dieser Ausstellung gibt es verschiedene Gründe. Folgende drei waren ausschlaggebend: ein persönlicher, eine Entdeckung einer Künstlerin, und die Lektüre eines Buches. All diese Gründe haben einen gemeinsamen Kern: die Realisation, dass die Familie und eine kritische Auseinandersetzung mit ihr in der Welt der zeitgenössischen Kunst weitgehend eine Leerstelle ist.
„Die Familie wird im beruflichen Feld vor allem für Frauen als Nachteil und als Hindernis gesehen“
FACES: Kannst du diese drei ausschlaggebenden Gründe genauer erläutern?
Melanie Bühler: Ein Video ging 2017 viral: Während eines Live- Skype-Fernsehinterviews, das ein Herr in Schale von seinem Büro aus gibt, marschiert plötzlich ein fesches Kleinkind guten Mutes ins Bild. Einen Augenblick später folgt das vermeintliche Geschwisterbaby, das in einer Laufhilfe ins Bild trudelt. Noch einen Augenblick später folgt die Mutter, in Panik, kauernd und kriechend, sammelt die Kinder ein und arbeitet sich rückwärts aus dem Zimmer. Aus irgendeinem Grund erschien dieses Video in meinem Feed und es fiel mir wie Schuppen von den Augen: Diese Frau bin ich, beim Versuch, mein Familienleben aus meiner Karriere herauszuhalten. Die Wahrheit ist, dass ich in meinem beruflichen Kontext – der Welt der zeitgenössischen Kunst – oft zu verbergen versuche, dass ich eine Familie habe. Die Familie wird im beruflichen Feld vor allem für Frauen als Nachteil und als Hindernis gesehen. Weiter hat mich die niederländische Künstlerin PINK de Thierry, die letztes Jahr verstorben ist, inspiriert. Zwischen 1981 und 1994 hat sie ihre Arbeiten fast ausschließlich gemeinsam mit ihrer Familie geschaffen: der Einheit „man-vrouw-kind“ oder MVK, wie sie es nannte. Gemeinsam schuf dieses Trio Performances über die Kernfamilie und ihre Stilisierung als ideale Form. Für ihre Kulissen, Requisiten und Kostüme konsultierte sie Zeitschriften und Hochglanzwerbungen. Für „At Home“, eine Arbeit aus 1984, die auch in der Ausstellung gezeigt wird, zum Beispiel, bewohnte die Familie hundert Tage das großformatige Gemälde eines vorstädtischen „Traumhauses“ in den Stadtzentren von Haarlem, Bergen und Middelburg. Dort spielten sie im öffentlichen Raum das Leben einer perfekten Kleinfamilie nach, wie es damals in der Werbung, im Fernsehen und in Zeitschriften dargestellt wurde. Mit PINK de Thierry tritt die Familie in die „Pictures Generation“ ein. Leider blieben ihre Arbeiten seit den Neunzigerjahren größtenteils völlig unbemerkt und erreichten kaum je ein Publikum außerhalb der Niederlande. Warum gibt es so wenig Kunst, die das Familienleben auf diese Weise in Szene setzt? Und warum war und ist PINK de Thierry – angesichts der Größe, der Ambition und des visionären Charakters ihrer Arbeiten – nicht bekannter?
FACES: Und welches Buch hat dir schließlich das Thema neu eröffnet?
Melanie Bühler: Im Buch „Die Familie abschaffen“ von Sophie Lewis stellt sie die Familie radikal in Frage. Auf einer der ersten Seiten schreibt sie: „Was ist Familie? Die Vorstellung, dass sie ein exklusiver Ort ist, an dem Menschen geboren sind, von dem Menschen herkommen, an dem Menschen gemacht werden und an den Menschen gehören, sitzt so tief, dass wir sie nicht einmal mehr als Vorstellung wahrnehmen.“ Offenbar hat sich Familie so tief in unserem Leben eingegraben, dass sie zu einem Non-Thema geworden ist. Dies wollte Lewis mit dem Buch und seinem provozierenden Titel ändern, indem sie die Frage in den Raum stellt, ob es sich nicht lohnen würde, die Familie abzuschaffen. Dieses Buch hat mir in vielerlei Hinsicht die Augen geöffnet, dieses Thema kritisch anzugehen und radikal aufzubrechen.
„Familie sollte als sozial-kulturelle Form anerkannt werden, die wir verändern und formen können“
FACES: Wie und wo hast du recherchiert und wie viel Zeit hat dich die Recherche gekostet?
Melanie Bühler: Wenn ich mich in ein Thema festbeisse und ich mich entscheide, eine Ausstellung dazu zu machen, reist dieses Interesse überall mit mir hin, wo ich hingehe: Ich taste dann alle Ausstellungen, Kunstmessen, Biennalen die ich besuche nach meinem spezifischen Interesse ab. Dazu kommt die Recherche über Literatur, Bücher und Fachzeitschriften sowie Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen, Künstlerinnen und Künstlern.
FACES: Müssen wir als Gesellschaft unseren Blick auf das Konstrukt „Familie“ ändern?
Melanie Bühler: Ja! Familie sollte, meiner Meinung nach, als sozial-kulturelle Form anerkannt werden, die wir verändern und formen können und nicht als natürlicher Zustand gesehen wird, der einfach „ist“. Wir brauchen andere Bilder und Vorstellungen von Familie, die über die Kernfamilie und deren traditionelles Rollenverständnis herausgehen, ohne dass wir gleich denken, dass wir etwas falsch machen. Dass wir keine gute Eltern sind, weil wir beispielsweise arbeiten oder die Care-Arbeit auf ein größeres Netzwerk aufteilen.
FACES: Die Ausstellung beleuchtet Familie auch aus einer kritischen Perspektive. Welche Kritikpunkte am traditionellen Familienkonzept gibt es?
Melanie Bühler: Die Ausstellung zeigt auch auf, dass Familie ein Ort von Gewalt und Missbrauch sein kann, die sich aus der bisweilen verhängnisvollen Privatheit ergeben können, die Familie und familiäre Beziehungen umgibt, was zum Beispiel Arbeiten von Maria Guta, Lauren Huret und Gillian Wearing verdeutlichen. Terre Thaemlitz schuf einen umfassenden Werkkörper zur Kritik der Familie: Er setzt sich für ein Ende der Fortpflanzung und der Reproduktion der Familie als Form ein, die er als repressiv, undemokratisch und schädlich für den Planeten beschreibt. Die Familie als Institution ist außerdem ein Eckpunkt des Kapitalismus. Seit dem Aufstieg des Neoliberalismus als beherrschende Ideologie in westlichen Ländern, ist die Familie nicht nur ein Markt, auf den es einzugehen gilt, sondern ihr wird auch Verantwortung für zahlreiche soziale Funktionen aufgebürdet, die traditionell vom Wohlfahrtsstaat übernommen wurden.
„Die Familie als Institution ist ein Eckpunkt des Kapitalismus“
FACES: Was bedeutet Familie für dich?
Melanie Bühler: Familie bedeutet für mich Nähe, Stress, Liebe, Verantwortung, totale Ablenkung und Hingabe, komplexe Organisation und Abhängigkeit, Verletzlichkeit.
FACES: Was erhoffst du dir, das BesucherInnen aus der Ausstellung mitnehmen? Welche Dialoge und Diskussionspunkte sollen angeregt werden?
Melanie Bühler: Hoffentlich weckt sie eine kritische Neugier und eine ganze Reihe von Gefühlen – positive und negative – welche die Komplexität und Widersprüchlichkeit des familiären Lebens widerspiegeln.
FACES: Wie war das Feedback zur Ausstellung bisher? Gab es unerwartete oder überraschende Reaktionen?
Melanie Bühler: Dass die Ausstellung unerwartet bunt und vielschichtig ist, und nicht „nur für Menschen, die Kinder haben“.
FACES: Hast du ein oder mehrere Lieblingswerke oder -künstlerInnen, die in der Ausstellung zu sehen sind?
Melanie Bühler: Alle Werke sind Lieblingswerke! Als Kuratorin kann ich nicht diskriminieren. Vielleicht kann ich eine Position beschreiben, die mir gefällt, weil sie die Realität des familiären Lebens und die Care-Arbeit immer wieder sehr treffend in kurzen Anekdoten beschreibt: die Malerei der japanischen Künstlerin Kyoko Idetsu. Sie malt Episoden, die aus dem Alltag herausgegriffen scheinen: gewöhnliche, aber sehr spezifische Szenen, die die besonderen Belastungen und Herausforderungen des Familienlebens und der Fürsorge für andere hervorheben. Die dargestellten Momente fungieren oft wie ein Fenster in einen Gedanken, ein Dilemma oder eine Sorge, die auftaucht, wenn man sich um das Wohlergehen eines anderen kümmert: Eltern, Nachbarn, Kinder und Freunde und ihre Beziehungen stehen im Fokus der Malerei der japanischen Künstlerin. Dazu schreibt sie immer jeweils neben das Bild einen Gedanken zur Entstehung des Bildes.
FACES: Welche verschiedenen Theorien, Denkrichtungen und Bewegungen fließen in die Ausstellung mit ein?
Melanie Bühler: Feministische Literatur und Kunstgeschichte, literarische Texte, soziologische und anthropologische Studien.
„In der Kunst galt die Familie lange Zeit als ‚weibliches‘ Nischen-Thema, das der Karriere schadet“
FACES: Was sind Gründe, weshalb die Familie bisher nicht oft kritisch hinterfragt wurde in Kunst, Kultur und Gesellschaft?
Melanie Bühler: In der Kunst galt die Familie lange Zeit als „weibliches“ Nischen-Thema, das der Karriere schadet, da es den Blick auf das Häusliche, Private und die traditionell weibliche Lebensrealität wirft. Ein Karrierekiller. Außerdem ist eine Familie zu haben noch immer eine finanzielle Belastung und das unstete, instabile berufliche Leben von Menschen in der zeitgenössischen Kunst (Residencies, Reisen, niedriges Einkommen und lange, unregelmäßige Arbeitszeiten) ist in vielerlei Hinsicht das Gegenteil dessen, was als zuträglich für das Großziehen von Kindern gilt – Routine, Struktur, Kontinuität, (finanzielle) Stabilität. Während also eine Familie in der Kernform in der Gesellschaft im Allgemeinen als kulturelle Norm gilt, verkörpert sie in der Kunstwelt eine Art Privileg; ein Privileg, das sich, wenn man es einmal geniesst, anderen gegenüber im gleichen Umfeld, die es sich nicht leisten können, unfair anfühlt. Ein Privileg, das eine Einschränkung von Berufsleben, Engagement und Verfügbarkeit darstellt, denn Familien sind schließlich chaotisch, unvorhersehbar und äußerst zeitraubend. Und zu guter Letzt: ein Privileg, das einen konservativen Beigeschmack hat, der Assoziationen weckt, die dem Zelebrieren des „Avantgardistischen“ und des „Widerspenstigen“ widersprechen, das unseren kulturell progressiven Räumen eigen ist. Alles Gründe, warum die Familie besonders in Kultur und Kunst wenig zum Thema gemacht wird.
„Ich würde anregen wollen, die Familie nicht zu definieren, sondern radikal zu befragen“
FACES: Gibt es drastische Unterschiede, wie verschiedene Kulturen Familie denken und leben?
Melanie Bühler: Ich bin natürlich keine Anthropologin. Aber ich nenne gerne eine Position in der Ausstellung, die ein Familienbild zeigt, welches vom unsrigen abweicht: In den Zeichnungen der Inuit-Künstlerin Shuvinai Ashoona taucht ein nicht-westliches Konzept von Familie auf, das auf ganz verschiedene Arten des Verstehens von Geschlechtsidentität, gesellschaftlicher Hierarchien und Beziehung zur Natur verweist.
FACES: Nachdem du dich so intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt hast: Wie definierst du Familie nach deinem jetzigen Empfinden?
Melanie Bühler: Ich würde gerade anregen wollen, die Familie nicht zu definieren, sondern radikal zu befragen, zu öffnen und sie in alle Richtungen neu zu denken. Viele Arbeiten in der Ausstellung gehen über den Status quo hinaus und zeigen die Familie als kulturelle Vorstellung, die hinterfragt und überdacht werden kann. Sie berichten von Familie als gelebte Realität, die im beruflichen Umfeld, besonders in der Kunstwelt, oft nicht anerkannt und als privat und damit untergeordnet stigmatisiert wird. Der Titel der Ausstellung: „Burning Down the House: Rethinking Family“ ist ein Zitat aus dem Lied „Burning Down the House» der amerikanischen Band Talking Heads von 1983. Der Text des aufgeregten, nervösen Songs macht größtenteils keinen großen Sinn. Nur die zentrale Zeile „burning down the house“, zu welcher der Song immer wieder zurückkehrt, erscheint eindeutig sinnvoll. Ich hoffe, dass wir einiges von seiner absurden Verspieltheit auf das Thema Familie anwenden können: eine Offenheit, Verrücktheit und ein Gefühl des Experimentierens. Was, wenn das, was die Familie auszeichnet, nicht ihre Privatheit und ihre Undurchdringlichkeit ist? Was, wenn wir ihre Zurückgezogenheit in Offenheit umwandeln können? Was, wenn wir das Haus niederbrennen?
Burning Down the House: Rethinking Family im Kunstmuseum St. Gallen
Museumstrasse 32, 9000 St. Gallen
bis 20. Oktober 2024
Du bist im Kunstfieber? Auch Oliviero Toscani lädt zum Nachdenken ein.
Wenn du bereit bist, das Konzept „Familie“ komplett zu überdenken, dann nichts wie hin ins Kunstmuseum St. Gallen.