Nach sechs Jahren und einer Reihe von Kontroversen ist die Lingerie-Show mit ihren Engeln zurück. Nachdem der Trubel auch schon wieder vorbei ist, bleiben zwei Fragen: Hat Victoria’s Secret das Versprechen nach mehr Inklusion gehalten – und braucht es die Show im Jahr 2024 überhaupt noch?
Wir sammeln kurz unsere gesamte Fantasie, schließen die Augen und träumen uns in die Neunziger und frühen Zweitausender. Ein Fernseher erscheint vor unserem inneren Auge. Auf dem flimmert die Victoria’s Secret Fashion Show, das Ereignis des Jahres – heißer ersehnt als jeder Superbowl, oder welche Sportereignisse auch immer die Welt zum Stillstand bringen. Die auserlesenen Models, die zu Engel erkoren wurden, genossen einen Sonderstatus in der ohnehin schon elitären Modewelt. VS-Angel zu werden war quasi der Ritterschlag der Branche, und statt einer Metallrüstung gab es glitzernde und gefiederte Flügel, die mindestens gleich schwer waren. In ihren besten Zeiten versammelte die Engelparade über zehn Millionen Menschen vor dem Fernseher – Zahlen, die in den Zehnerjahren schneller abnahmen als die Models, wenn sie sich ihrem knallharten Fitness- und Diätregime vor der Show stellten. Den Angels gemein war nämlich, dass sie nicht nur übernatürlich schön, sondern auch übernatürlich schlank waren. Und vorwiegend weiß und westlich. Ein Secret, das Victoria nicht bewahrte, war, wie sie zu Schönheitsidealen steht.
Von Body-Positivity bis TikTok-Trend
Irgendwann tauchte Social Media auf und damit einerseits eine bedenkliche Intensivierung einseitiger Schönheitsideale. Schon länger brodelt es unter der Oberfläche und taucht – je nach Algorithmus – auch in unserem Instagram- und TikTok-Feed auf: Der ultradünne Early-2000s-Look ist zurück, und zwar in full force. Auf der anderen Seite aber gewannen Body Positivity Bewegungen an Reichweite. Der Ruf nach Inklusion und Diversität, auch und besonders in der Model- und Lingeriewelt wurde lauter und schließlich unüberhörbar. Und was machte Victoria’s Secret mitten im Tumult? Sich ins Abseits schießen. Zumindest taten das die Aussagen von Ed Razek, einem der damaligen CEO. Trans Frauen sollten laut ihm nicht für Victoria’s Secret laufen. Begründung: Die Show verkaufe eine Fantasie. Warum diese Fantasie trans Frauen nicht inkludieren soll, lässt sich ohne Transphobie nicht erklären. Da hilft es auch nicht, dass Razek seine Aussagen später zurücknahm und von seinem Posten zurücktrat. Es war ohnehin zu spät: Models und MitarbeiterInnen sprachen von Bedrängung und körperlichen Übergriffen. Ein passend betitelter Artikel der New York Times – „Angels in Hell“ – tauchte tiefer ein in die scheinbar äußerst toxische und misogyne Welt des Lingerie-Riesen. 2018 flimmerte die letzte Show über die Bildschirme. Auch die Verkaufszahlen schrumpften. Da half es auch nicht, dass knallpinke Unterwäsche mit Glitzerdetails sowieso allmählich an Coolness verlor, und Musikikone Rihanna obendrauf noch etwa zeitgleich ihr Unterwäsche-Label lancierte, das tatsächlich inklusiv ist – von Größenvielfalt bis Modelauswahl.
They’re back, baby! Oder so.
Sechs Jahre später sind Victoria und ihre Armee an Engeln zurück. Die Erwartungen waren groß. Die Resonanz? Na ja. Passiert gerade so viel Schlimmes in der Welt, dass schöne Unterwäsche und Engelsflügel nicht reichen für eine Runde süßen Eskapismus? Sind wir aus Victoria’s Secret rausgewachsen, während die junge Generation gar nie erst in die über-femininen Kreationen reinwuchs? Zuerst einmal zur Show selbst: Sie war tatsächlich diverser als zuvor. Das war aber auch kein schwieriges Unterfangen. So liefen immerhin zwei trans Models: Alex Consani und Valentina Sampaio. Alex Consani ist gerade sowieso das It-Girl der Stunde. Sie sollte also in erster Linie gebucht werden, weil sie gut ist, und nicht, weil sie trans ist. Auch ein paar Plus-Size Models schritten über den Laufsteg – noch etwas, das laut Ed Razek die Fantasie ruinieren würde. Ashley Graham und Paloma Elsesser hatten ihr Engel-Debüt und ruinierten rein gar nichts. Auch die Altersgrenze wurde nach oben angehoben: Carla Bruni und Tyra Banks vertraten die 50plus-Generation. Und Kate Moss hatte ihr VS-Debüt gemeinsam mit Tochter Lila. Aufmerksamen Augen wird aufgefallen sein, dass fast alle, die ein kleines Bisschen aus dem klar definierten Victoria’s-Secret-Rahmen fallen, mehr Kleidung trugen, als diejenigen Engel, die dem ursprünglichen VS-Look entsprechen. Tyra Banks und Kate Moss waren für Lingerie-Verhältnisse regelrecht verhüllt. Die original angels, wie Adriana Lima, Alessandra Ambrosio oder Candice Swanepoel, sowie die neue Garde – die Hadid-Schwestern –, die dem klassischen Victoria’s Secret Bild entsprechen, waren um einiges freizügiger unterwegs.
Wie viel Politik steckt in Lingerie?
Wie viel sozialpolitische Verantwortung hat ein Unterwäschelabel? Mehr, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Was millionenfach gesehen, auf Social Media multipliziert und bis ins letzte Detail analysiert wird, hat Relevanz, ob man will oder nicht. Je mehr wir in einer Flut von Bildmaterial nur eine Form von Schönheit sehen, desto schlechter fühlen sich alle, die dieser nicht entsprechen. Und wenn es um Themen wie Körperakzeptanz oder Transfeindlichkeit geht, dann ist es eben nicht mehr nur oberflächlich, sondern kann marginalisierte Gruppen im echten Leben beeinflussen: Ein gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper betrifft immer mehr junge Menschen, und Angriffe auf trans Menschen nehmen in den letzten Jahren zu. Alex Consani oder Ashley Graham mit kitschigen Flügeln und noch kitschigerer Unterwäsche an einer der größten Modenschauen zu sehen, ist darum von Bedeutung – auch wenn die VS Show auf den ersten Blick nichts mehr als eine Mischung aus Nostalgie und Fantasie ist. Trotzdem ist es ein Abwägen: Wie viel Verantwortung schieben wir auf eine Lingerie-Marke? Soll sie die Welt verändern oder liegt das doch nicht eher an der Politik und an uns selbst? Die Antwort liegt irgendwo dazwischen. Und wie geht’s jetzt weiter mit dem nach wie vor gehypten, aber irgendwie auch in der Vergangenheit kleben gebliebenen Label? Man hat das Gefühl, Victoria wisse nicht recht, wo 2024 ihr Platz ist. Soll sie mit der Zeit gehen oder stur ihrer Fantasie treu bleiben? Vielleicht geht ja beides: Man kann Spass an der Show haben, in Nostalgie versinken, die Schönheit der Models bewundern – und trotzdem Kritik äußern. Oder zumindest hinterfragen, wo und auf welche Weise diese Art von Entertainment jetzt und in Zukunft Platz haben soll.
Wie war das nochmals mit Schönheitsidealen? In der Horror-Komödie „The Substance“ endet das Ganze blutig.
In or out? Um dir deine eigene Meinung zu bilden, kannst du dir die gesamte Show hier anschauen.
Fotos: © Launchmetrics