Gäbe es einen griechischen Gott der Cocktailpartys, hätten wir längst antike Vasen mit dem Antlitz von Bryan Ferry ausgegraben. Doch Bryan Ferry ist kein griechischer Gott. Er ist ein englischer Sänger. Und damit – wahrscheinlich – ein bloßer Sterblicher. Doch einer, dessen Songs und Stil einen eigenen Pantheon verdient haben. Die neue Retrospektive „Selected Recordings 1973 – 2023“ ist genau das und blickt auf eine 50-jährige Karriere zurück. Wir tun es auch.
Du stehst am Fenster deines Penthouses. Die goldenen Aschenbecher sind voll. Die Fruchtschalen aus Schildpatt sind leer. Das Model – männlich, weiblich, anderes – liegt im Bett auf dem zerwühlten Satin, nachdem ihr den ganzen Abend lang Sex hattet. Du nippst an Champagner, dessen Flasche so teuer ist wie eine Einbauküche, und fühlst – nichts. Jetzt ist der Moment gekommen, um die Stimme von Bryan Ferry zu hören. Eleganz, Melancholie, Künstlichkeit sind die Co-Autorinnen seines Œuvres. Ein Leben lang wirkte Bryan Ferry wie der eleganteste Mann auf einer Party, an der er eigentlich gar nicht unbedingt sein möchte. In einem Interview verriet Ferry einst: Er fühle sich nicht wohl dabei, mit anderen Menschen zu reden – deshalb sei er Sänger geworden. Ein introvertierter Dandy, dem keine andere Wahl blieb als Rockstar, Popidol, Jazzinterpret.
Leiden im Luxus
Das Leben im weißen Smoking schien ihm zunächst nicht vorbestimmt. Bryan Ferry wuchs im Norden Englands auf als Sohn eines Minenarbeiters, der Zugpferde unter Tage führte. Nach einem Kunststudium in Newcastle und kurzem Engagement als Keramiklehrer formte Ferry mit ehemaligen Klassenkameraden und Gleichgesinnten die Band Roxy Music. Mit flamboyanten Stylings und Rock’n’Roll-Anlehnungen verhedderte sich die Gruppe in den Sog der Glam-Rock-Mania, die sich im Jahr 1972 über England ausbreitete. Doch Roxy Music als Glam-Rock-Band zu bezeichnen, ist, als würde man James Cameron als Regisseur von „Piranha II: The Spawning“ vorstellen. Stimmt zwar auch, doch schon von Beginn weg operierten Roxy Music künstlerisch und intellektuell auf anderem Niveau. Hinter dem Rücken des Glam Rocks erfanden die ehemaligen Kunststudenten den Art Pop und stocherten mit diesem in der Seele der westlichen Nachkriegsgesellschaft. Für diese wurden Songs wie „In Every Dream Home a Heartache“ zur ernüchternden Zwischenbilanz: Mit einem Mal begann der Luxus zu langweilen, den man sich in den Fünfziger- und Sechzigerjahren unter seinem Dach angehäuft hatte. Und trotzdem war da ständig die große Angst, ihn wieder zu verlieren. Materialismus als toxische Liebesbeziehung. Doch statt gegen diese Erkenntnis zu rebellieren, zelebrierten Roxy Music und allen voran ihr Frontmann den tristen Glanz der Oberflächlichkeiten. Zum Markenzeichen der Band wurden die lasziven Plattencover, von Bryan Ferry persönlich inszeniert wie die Titelseiten eines Modehefts. Roxy Music war jene Band, die in ihren LPs nicht nur Musiker und Toningenieure in den Produktionsnotizen hervorhob, sondern auch die Verantwortlichen für Hair und Make-up.
Bryan vs. Brian
Nach zwei Alben verließ Keyboarder Brian Eno die Band. Zum einen, weil Bryan Ferry das kreative Kräftemessen gewonnen hatte und die Avantgarde-Ambitionen von Eno für einen geschmeidigeren Popsound zurückstecken wollte. Zum anderen, angeblich, weil der singende Dressman nie so ganz verstehen konnte, warum der kleingewachsene Studiotechnik-Nerd mit dem schütteren Haar backstage all die Frauen abbekam. In den folgenden zehn Jahren wurde Roxy Music die Begleitband zur pastellfarbenen Dekadenz der späten Siebziger und frühen Achtziger. Mittendrin und doch irgendwie entrückt: Bryan Ferry als der ultimative British Gentleman, gegen den selbst James Bond wirkte wie ein um Suppe bettelnder Waisenknabe von den Seiten eines Charles-Dickens-Romans. Sexy. Sophisticated. Und doch… somewhat sad hinter diesen stahlblauen Augen. Mit der Rolle des ultimativen Verführers konnte Ferry zwar auf der Bühne kokettieren, doch abseits war es oft das eigene Herz, das gebrochen wurde. Seine Verlobte Jerry Hall, Model auf dem Albumcover zu „Siren“, verließ den Sänger 1977 medienwirksam für einen anderen: Mick Jagger. Immerhin kein kleingewachsener Studiotechnik-Nerd mit schütterem Haar.
Going solo
Auf dem Höhepunkt des kommerziellen Erfolgs lösten sich Roxy Music 1983 auf. Bryan Ferry ging danach seiner bereits lancierten Karriere als Solokünstler nach. Er blieb seinem Stil treu und interpretierte mit diesem unter anderem Klassiker anderer MusikerInnen neu, beispielsweise auf dem Bob-Dylan-Coveralbum „Dylanesque“. Doch auch als Jazz-Crooner und Vocalist düsterer Electronica-Tracks hat Bryan Ferry bis heute seine musikalische Relevanz beibehalten. Noch immer geht er regelmäßig auf Tournee und nutzt die Konzertreisen insbesondere, um die örtlichen Museen zu besuchen – auch im Alter von 79 Jahren noch immer ein Student der Kunst. Die glitzernden Partys besuchen jetzt andere. Ausnahmetalente wie The Weeknd, Harry Styles oder St. Vincent, die sich auf das modische und musikalische Erbe Bryan Ferrys beziehen. Das Wasser mögen sie ihm dabei zwar nicht ganz reichen. Aber vielleicht den Champagner, das Glas so teuer wie ein Flachbildfernseher.
Bryan Ferry, Retrospective: Selected Recordings 1973-2023
„More Than This“ können Fans von Bryan Ferry nicht verlangen. Die erste Karriere umfassende Werkschau des Engländers packt 50 Jahre Musikgeschichte auf zwei Doppel-Vinyl-LPs bzw. fünf CDs. mit 81 Songs (inklusive der neuen Single „Star“). Streamen über die gängigen Plattformen lässt sich die Compilation zwar auch, doch ergänzt wird die Veröffentlichung mit einem 100-seitigen Buch. Dessen Liner Notes und Aufnahmen von Starfotografen wie Anton Corbijn untermauern, warum sich dank der eisigen Coolness von Bryan Ferry die Erderwärmung zumindest ein bisschen verzögert. (Oder auch nicht. Wir sind Style-ExpertInnen, keine KlimaforscherInnen.)
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Bryan Ferry ist einer unserer Helden, das ist klar. Wer es noch auf unsere Liste schafft, entdeckst du hier.