BlessedAlpaca909 entdeckt Bob Dylan. Der Folk-Poet ist neuerdings mit offiziellem Account auf TikTok. Keine Bange. Der Nobelpreisträger lipsynct weder „Espresso“ von Sabrina Carpenter, noch zeigt er epic Ski Guy dance moves. Stattdessen geben die Videoclips Einblick in eine Ära, als Folk zu Pop und Pop politisch wurde. Wem das alles zu klein und zu kurz ist, schaut sich Dylans Aufstieg dank „A Complete Unknown“ jetzt im Kino an. Mit 83 Jahren rasselt der Tambourine Man noch einmal extra laut für ein neues Publikum.
1963 verleihen ein paar alte Männer in einem protzigen Hotel-Ballsaal dem 22-jährigen Bob Dylan einen Preis für seine Verdienste in der Bürgerrechtsbewegung. Seine Karriere ist gerade mal zwei Jahre alt. Nun blickt der Troubadour über ein Meer aus mächtigen Glatzen, die sich an diesem Abend vor allem selbst auf die Schulter klopfen wollen. Trotzig und angetrunken stellt Dylan am Rednerpult fest: „Ich habe lange gebraucht, um jung zu werden.“ Es ist die Tragikomödie des Lebens, dass es danach ziemlich kurz geht, um plötzlich alt zu sein.
Die Songs, die Bob Dylan in jenen Tagen schrieb und spielte, haben die letzten 60 Jahre überdauert. Sie gehören zum größten Schatz in der Musik, ja selbst der Literatur. Doch für eine junge Generation liegt dieser Schatz wahrscheinlich tief begraben. Unter dem digitalen Sand von Content, Content, Content, der jedes Jahr, jede Woche, jede Sekunde auf uns herabrinnt. Deshalb ist es hilfreich, wenn ab und zu eine Schatzkarte auftaucht, die dich neugierig macht und auf die richtige Spur führt. So wie der neue Kinofilm „A Complete Unknown“.

A stone starts rollin’
Das Biopic konzentriert sich auf jenen entscheidenden Ausschnitt im Leben Dylans, als er 1961 in New York City ankommt und sich an der Wandergitarre zum Idol einer Generation zupft. Vier Jahre später wird er Konzerte spielen, für die sich seine Fans Tickets kaufen, nur um ihren Helden auszubuhen. Es ist auch jene Zeit, in der die Hoffnungen und Träume der amerikanischen BürgerInnen zu Wut und Kampfeslust eskalieren, weil die Identifikationsfiguren des positiven Wandels vor den Augen der Welt niedergeschossen werden.

Als John F. Kennedy ins Weiße Haus einzieht, erreicht Bob Dylan per Autostopp das Greenwich Village. Im KünstlerInnenviertel von New York City ist es bitterkalt, doch die Folkszene zieht faszinierende Persönlichkeiten aus dem ganzen Land an. Wer etwas zu sagen hat, sagt es hier. Und bald sagt es Bob Dylan besser, als alle anderen. Spielt er zunächst traditionelles Liedgut und Coverversionen von Protest-Sängern wie Woody Guthrie, klackert Dylan schon bald eigene Kompositionen in die Schreibmaschine. Seine Worte treffen den Zeitgeist – und schöpfen aus einer Poesie, die sie zeitlos machen. Der Mainstream tut sich zunächst schwer mit Dylans Darbietungen. Er singt mit nasaler Stimme, spielt rudimentäre Gitarrenmelodien und windschiefe Harmonika-Einlagen. Doch so wie man bittere Medizin auf ein Zuckerstück tropft, interpretieren Engelsstimmen wie Joan Baez oder Peter, Paul and Mary die Songs und machen sie für ein breites Publikum zugänglich. Aus dem Folknik wird ein Popstar. Pop im Sinne von: Populäre Musik, weil sie die Gesellschaft in jenem Moment der Geschichte wie ein Stück Bernstein einfängt.
Wind blowin’ in other directions

Bald spielt Dylan nicht mehr in verrauchten Cafés, sondern vor einer Viertelmillion Menschen am March on Washington. Dort verkündet unter anderem Martin Luther King seinen Traum von einem besseren Amerika. Drei Monate später wird alles schlechter. Im November 1963 stirbt John F. Kennedy in Dallas bei einem Attentat. Die heile Welt hat sich nicht herbeisingen lassen. Bob Dylan ist das schon immer klar gewesen. In den kommenden Monaten rebelliert er nicht nur gegen die KriegstreiberInnen und RassenhetzerInnen, sondern auch jene, die ihn für politische Kampagnen einspannen wollen. Sein Leben lang ein Vagabund, will Bob Dylan kein Messias für die Massen sein, stattdessen ein Minnesänger am Küchentisch. Seine Liedtexte ziehen sich zunehmend aus dem Politischen zurück und suchen ihre Geschichten im Persönlichen, spätere Ausnahmen wie „Hurricane“ bestätigen die Regel.

Hard rains keep fallin’
1965 versammeln sich ein paar junge Hippies am Newport Folk Festival und wollen Bob Dylan beim idyllischen Gitarrespielen lauschen. Doch der Sänger blickt über ihre verwuschelten Frisuren und hat andere Pläne. Begleitet von einer Band steckt Dylan die Instrumente am Strom an und verstört das Publikum mit einer rotzigen, rockigen Performance. Die ZuschauerInnen buhen, auch an kommenden Konzerten. Es wird zwei der besten Alben aller Zeiten benötigen („Highway 61 Revisited“, „Blonde on Blonde“), um den radikalen Stilwechsel zu rechtfertigen. Er, der lange gebraucht hat, um jung zu werden, ist in wenigen Monaten erwachsen geworden.

Was Dylan in den folgenden Jahren alles erwartet, dazu reicht hier leider nicht der Platz. Vielleicht ist der Rest seiner Geschichte inzwischen von der Plattenlabel-Praktikantin auf Bobs TikTok hochgeladen worden. Doch was hat der alte Mann dort seinen jungen EntdeckerInnen heute noch zu sagen? Vielleicht, dass auch sie etwas zu sagen haben. Etwas sagen müssen. Nicht unbedingt mit Dylans Eloquenz, dafür mit unbeugsamer Entschlossenheit. Denn auch wenn das Singen eines Songs die Welt nicht gerechter macht, so ist es dennoch unsere Pflicht, gegen politische Grausamkeit die Stimme zu erheben. Falls uns dazu auch noch eine liebliche Melodie einfällt? Umso besser.

A Complete Unknown
Der Grundschul-Musiklehrer im ausgetragenen Wollpullover und mit der abgewetzten Ledertasche muss jetzt ganz tapfer sein: Für die meisten SchülerInnen seiner Klasse ist Bob Dylan genau das, was der Titel dieser Filmbiografie suggeriert. Doch vielleicht ändert sich das jetzt dank Hollywoods Herzbuben Timothée Chalamet in der Hauptrolle von „A Complete Unknown“. Regisseur James Mangold, der bereits Johnny Cash mit „Walk the Line“ ein cineastisches Denkmal setzte, fängt den Songwriter während dessen frühen Tage in der Folkszene von Greenwich Village ein – bis Dylans Entscheidung, ein Stromkabel einzustecken, die Musikwelt verändert.
„A Complete Unknown“ von James Mangold, mit Timothée Chalamet, Monica Barbaro u.a., jetzt im Kino
Auch er singt sich seit Jahrzehnten durchs Leben und hört hoffentlich nie damit auf: Bryan Ferry.
Wie macht sich Timothée Chalamet als Bob Dylan? Einen Einblick gibt’s hier.