In der Schule hat Kate Sterlin die Dunkelkammer auf eigene Faust entdeckt. Mit intimen Porträts ihres Vaters begann sie, ihren puristischen und dokumentarischen Stil zu entwickeln. Im Interview erzählt sie, wie sich ihre Definition von Familie im Laufe der Jahre verändert hat, was die Fotografie und das Schreiben verbindet und warum das Thema Rassismus allgegenwärtig ist.
FACES: Du fängst Liebe und damit verbundene Emotionen ein, also müssen wir als erstes fragen: Was ist Liebe?
Kate Sterlin: Liebe ist ewig, Zeit hingegen ist flüchtig. Liebe ist brutal und exquisit – es ist das Leben, das dazu führt, dass sie nicht immer funktioniert. Und wenn es nicht klappt, heißt das nicht, dass es keine Liebe war. Sie kommt in vielen Formen daher und man kann sie weiterhin mit sich tragen, mit dem Gedanken, dass es „wahre“ Liebe war.
F: Und weil Familie eine zentrale Rolle in deinem Buch „Still Life“ spielt: Was bedeutet Familie für dich?
KS: Ich wuchs in einer fünfköpfigen Migrantenfamilie auf, die ständig von Ort zu Ort zog. Familie fühlte sich stark, aber klein und allein an. Jetzt empfinde ich Familie auf eine andere Weise. Ich habe gelernt zu verstehen, was sie in diesem verrückten Leben für mich bedeutet. Es sind die Menschen, die mir nahe stehen und für alles da sind, was passiert. Mit 21 Jahren habe ich mit meiner Tochter, meinem Sohn und meinen Stieftöchtern eine eigene Familie gegründet, die immer noch meine Welt ist. Außerdem habe ich eine Verbindung zu meiner lange verlorenen Familie väterlicherseits hergestellt, was sich wie eine Art Wiedergutmachung anfühlt und mir ein neues Verständnis von Erbe und Ähnlichkeit vermittelt.
F: Liebe ist automatisch mit Verlust und Traurigkeit verbunden, was du in „Still Life“ ebenfalls zum Ausdruck bringst. Ist unser Blick auf Liebe und Intimität zu eng? Wolltest du eine andere, bisher ungesehene Version dieser Gefühle zeigen?
KS: Kurze Antwort: Ja. Unsere Vorstellung von Liebe ist kulturell auf romantische LebenspartnerInnen ausgerichtet. Dabei glaube ich, dass es ziemlich einfach ist, sich auch in FreundInnen zu verlieben. Manchmal sind die Grenzen dieser Nähe verschwommen. Die Liebe kann lebensverändernd und kraftvoll sein, wenn man sie zulässt. Die Schichten und Varianten der Liebe formen uns und machen uns interessant.
„Ich bin mit einer voll ausgearbeiteten Idee in diesen Prozess gegangen.“
F: Du fängst mit deiner Kamera intime Szenarien und Gefühle ein. Fühlt sich das manchmal voyeuristisch an?
KS: Ja. Das Leben in seiner reinsten Form zu dokumentieren ist ein Kampf zwischen Anwesenheit, Stille und der Frage, warum ich da bin und ob ich vielleicht nicht da sein sollte.
F: „Still Life“ ist dein erstes Buch. Auf welche unerwarteten Hürden bist du im Entstehungsprozess gestoßen?
KS: Ich bin mit einer voll ausgearbeiteten Idee in diesen Prozess gegangen. Dann ging es darum, so weit loszulassen, dass ich den Bearbeitungsprozess und das, wohin er führen könnte, annehmen und schätzen konnte.
F: Das Cover von „Still Life“ ist in Farbe, während alle anderen Fotos Schwarz-Weiß sind. War das eine bewusste Entscheidung? Warum hast du dich auf Schwarz-Weiß konzentriert?
KS: Die meisten meiner Arbeiten sind Schwarz-Weiß. So sehe ich – in Form und Licht. In einer der früheren Versionen des Buches hatte ich ein paar Bilder in Farbe drin, aber Jesse Pollock von Anthology, der mit mir zusammen das Buch herausgegeben hat, sah es immer als Schwarz-Weiß-Buch. Er hatte so recht! Ich hatte das Titelbild schon immer geliebt und es in meinem Atelier über meinem Schreibtisch aufgehängt. Irgendetwas an dem Titel und dem Ton des Buches mit den Geschichten von Liebe und Verlust im Kontrast zu den beiden sich umarmenden Bräuten, den satten Rosatönen, dem Blumenstrauß, war so anders, dass es Sinn machte.
F: Nebst der Fotografie schreibst du auch. Wie unterscheiden sich die beiden Kunstformen und wie sind sie ähnlich?
KS: Beim Fotografieren bin ich im Raum, ein paar Meter entfernt hinter der Linse, und beim Schreiben stehe ich quasi davor.
F: Gehören Schreiben und Fotografieren für dich zusammen? Was kannst du mit Bildern ausdrücken, das du mit Worten nicht kannst und umgekehrt?
KS: Ich liebe beides gleichermaßen und aus unterschiedlichen Gründen. Die beiden Kunstformen sind verwandt und beide erzählen Geschichten. Mit Bildern dokumentiere ich eine Geschichte, die mit mir oder ohne mich stattfindet. Ich sehe es als Privileg, sie aufzuzeichnen, ohne zu stören. Bei Porträts geht es darum, einen Ort des Vertrauens zu erreichen, an dem wir beide genug loslassen können, um den Moment zu transzendieren – frei zu sein. Beim Schreiben geht es eher darum, die Erinnerung zu erforschen und dann zu versuchen, darüber zu berichten. In gewisser Weise bewahren beide die Zeit, aber es gibt eine Unschärfe in der Erinnerung, die man bei Bildern nicht hat. Letztendlich möchte ich, dass meine Bilder eine Geschichte ohne Worte erzählen. Meine geschriebenen Geschichten sollen filmisch sein und bei den LeserInnen Bilder und Erinnerungen hervorrufen.
„Ich konzentriere mich auf die Menschen, die mir nahe stehen und auf das Leben, das um mich herum stattfindet.“
F: Die Fotografie trägt viel dazu bei, was wir in unserer Gesellschaft sehen. Wovon müssen wir mehr sehen?
KS: Das ist eine schwierige Frage – aber eine gute! Kulturell gesehen wurde uns in Amerika das Gefühl für die Geschichte, wie sie dokumentiert und erzählt wurde, geraubt, so dass es viel zu reparieren und neu zu erzählen gibt. Darum brauchen wir mehr Bilder von Schwarzen FotografInnen in Amerika – und um Amerika global zu repräsentieren. Verlernen und Umlernen kann durch Kunst und Geschichtenerzählen aus einer authentischen Quelle geschehen.
F: Warum ist die Fotografie noch immer ein männerdominiertes Feld?
KS: Weil das Patriarchat noch immer am Leben ist – und es ihm sehr gut geht.
F: Wie verändert ein weiblicher Blick die Fotografie?
KS: Jeder authentische Blick aus einer Linse, durch die zu schauen wir uns nicht gewöhnt sind, ist wichtig in einem Medium, das für Ausbeutung bekannt ist.
F: Wie beeinflusst deine Erfahrung als Frau und als Person of Color deine Fotografie? Was siehst du, was andere nicht sehen?
KS: Ich konzentriere mich auf die Menschen, die mir nahe stehen und auf das Leben, das um mich herum stattfindet. Kürzlich habe ich dokumentiert, wie ich meine Mutter pflegte. Eigentlich aus Gewohnheit, aber ich merkte, dass es ein Weg war, die Enormität dessen, was ich erlebte, zu verarbeiten. Ein paar Monate nach ihrem Tod bat mich meine Freundin, ein Porträt ihrer 99-jährigen Mutter zu machen, bei der sie lebt und die sie pflegt. Ich bin dabei, daraus eine Fotostory über Töchter und Mütter zu entwickeln. Über Liebe und die Herausforderung, genug Energie zu haben, um die Pflege aufrechtzuerhalten. Über die Verpflichtung, die eigenen Eltern durch die Reise des Verfalls und des Sterbens zu begleiten – die unerbittliche Aufgabe, die damit verbunden ist. Der Gedanke, dass es, egal was passiert, nicht besser, leichter oder weniger schmerzhaft wird. Aber man kann Schönheit und Erfüllung in einigen der sich langsam bewegenden Momente finden, bevor sie im Schatten der Trauer untergehen.
F: Du setzt dich in deiner Fotografie auch mit Rassismus auseinander. Wie hat sich der Diskurs da in den letzten Jahren verändert?
KS: Die Ermordung von George Floyd im Jahr 2020 und die darauf folgende Black-Lives-Matter-Bewegung eröffneten die Diskussion, die Schwarze und PoC bereits seit Jahren geführt hatten. Es fühlte sich an, als ob die Lichter für alle anderen aufgingen und es eine neue Sprache gab, mit der man arbeiten konnte. Nun haben wir uns leider größtenteils zurückentwickelt. Aber das Ganze hat mir ermöglicht, rassistisches Verhalten im Beruf mutiger anzuprangern und das Thema in jedes Gespräch einzubeziehen, wenn es relevant ist – was ehrlich gesagt meistens der Fall ist.
„Schuld, Gier und Unehrlichkeit nähren den Rassismus.“
F: Inwiefern helfen dir die Fotografie und das Schreiben mit Themen zu Rassismus und Ethnie?
KS: Beides ist eine Form des Geschichtenerzählens und Ethnie ist ein wichtiger Bestandteil der amerikanischen Geschichte. Wer sie erzählt und warum, ist relevant. Beim Fotografieren und Schreiben geht es für mich um reine Beobachtung. Meine Fragen über Ethnie gehen weiter, und das sollten sie für uns alle. Ich denke, dass ein offener und ehrlicher Diskurs über die Ungleichheiten der Ethnien in Amerika und in den meisten Teilen der Welt von großem Nutzen wäre. Schuld, Gier und Unehrlichkeit nähren den Rassismus. Meine ethnische Identität ist etwas, das ich selbst herausfinden musste. Als Tochter eines hellhäutigen haitianischen Vaters und einer weißen britischen Mutter wuchs ich in den Siebziger- und Achtzigerjahren im Vereinigten Königreich und in den USA auf, als Assimilation noch eine gängige Praxis war. Auch wenn Critical Race Theory damals schon eingeführt war, habe ich das Gefühl, dass sie erst 2020 eine breitere Öffentlichkeit erreicht hat. Ich arbeite an einem Langzeitprojekt über die Familie meines Vaters. Es ist eine Zeitkapsel von Haiti in den Dreißigerjahren bis in die Gegenwart, die eine zerrissene Familie zusammenfügt, die in Amerika und Kanada verstreut ist, weil sie aus ihrer Heimat verdrängt wurde – die aber auch wohlhabend, privilegiert und hellhäutig in einer rassistischen Kultur der Fünfzigerjahre lebt.
F: Du hast in früheren Interviews erwähnt, je nach Kontext als Weiß durchzugehen. Wie hat dies deine Erfahrungen mit Rassismus geprägt und wie wirkt es sich darauf aus, wie du die Thematik visuell erforschst?
KS: Ich bin sozusagen mit ethnischer Verwirrung aufgewachsen, die sowohl mich selbst, als auch die Menschen um mich herum betraf. Mein hellhäutiges Privileg und was dies mir erlaubt – und welche Verantwortung ich damit trage – ist ein ständiger Lernprozess, und all das beeinflusst natürlich die Geschichten, zu denen ich mich hingezogen fühle.
F: Welche FotografInnen haben dich inspiriert?
KS: Mary Ellen Mark, Ming Smith, Deana Lawson, Nan Goldin, Garry Winogrand, Philip-Lorca diCorcia und Gordon Parks hatten einen enormen Einfluss auf mich.
F: Wer oder was hat dich dazu gebracht, das erste Mal eine Kamera in die Hand zu nehmen?
KS: Diane Arbus.
F: Erinnerst du dich an das erste Foto, das du je gemacht hast?
KS: Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich an das erste Foto erinnere, das ich gemacht habe, aber ich erinnere mich an das erste Bild, das ich entwickelt und gedruckt habe. Es war ein Foto meines Vaters in einer Highschool-Dunkelkammer in New Hampshire, die niemand benutzte, so dass man mir sagte, ich müsse selbst herausfinden, wie sie funktioniert – und das tat ich auch. Umso magischer war es, als ich meinen Vater auf diesem kleinen Foto im Rotlicht scharf erscheinen sah.
F: Wofür möchtest du, dass deine Bilder bekannt sind?
KS: Man soll sie als Dokumente der jetzigen Zeit sehen.
„Ich fühle mich geehrt, Porträts von allen zu machen, die mit mir arbeiten.“
F: Was ist die Kamera deiner Wahl und wie wichtig ist dir die Ausrüstung?
KS: Mit meiner Leica M6 bin ich für immer verheiratet. Ich fotografiere auch viel mit der Fuji XPRO2, weil sie einfach und zuverlässig ist, und ich liebe derzeit die Mamiya RZ67 für Porträts. Am besten ist es, Werkzeuge zu finden, die man sich zu eigen machen kann und bei denen man sich darauf verlassen kann, dass sie das tun, was man technisch und von der Stimmung her von ihnen erwartet. Bei der Mamiya RZ67 ist von beiden Seiten Geduld gefragt, was zu einer Langsamkeit führt, die für die Intimität von Porträts notwendig ist. Die Fuji und die Leica sind so winzig und vertraut, dass sie sich wie eine Erweiterung anfühlen und sich hervorragend für Straßen- und Alltagsaufnahmen eignen.
F: Welche Projekte möchtest du in der Zukunft verwirklichen?
KS: Ich arbeite an einem neuen Buch über die Verschwommenheit der gleichgeschlechtlichen Intimität. Ich erkunde das Spektrum von Gender und Queerness – und untersuche, wie wir Liebe und Intimität definieren.
F: Wen möchtest du einmal vor deiner Linse haben?
KS: An diese Frage habe ich noch gar nie gedacht. Ich fühle mich geehrt, Porträts von allen zu machen, die mit mir arbeiten. Es fühlt sich jedes Mal besonders an, Momente auf Film zu sammeln. Ich habe gerade Porträts mit Cécile McLorin Salvant für ihr Albumcover gemacht, und wir hatten eine magische Zeit. Ich habe meine Lieblingskameras mitgebracht und wir haben stundenlang gespielt. Dabei sind ein paar wirklich besondere Bilder entstanden.
F: Magst du Social Media als Fotografin oder ist es eher ein Fluch?
KS: Ich mag es, dass ich auf einfache Weise mit Menschen und FreundInnen auf der ganzen Welt in Kontakt sein kann. Vieles bringt aber auch mein Gehirn zum Schmelzen und ich versuche, so oft wie möglich nicht online zu sein.
F: Ein paar kurze Fragen zum Schluss… Farbe oder Schwarz-Weiß?
KS: Für mich Schwarz-Weiß. Aber ich liebe die Arbeiten anderer FotografInnen in Farbe.
F: Digital oder analog?
KS: Ich mache beides. Aber es macht mir Angst, wenn ich einen besonderen Moment nicht auch auf Film habe.
F: Studio oder Straße?
KS: Beides.
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Du willst alle Bilder sehen? „Still Life“ findest du hier.