How much is too much? Schwierig zu sagen, wenn man Oliviero Toscanis Fotografien für Benetton anschaut, auf denen antirassistische Messages genauso Platz finden wie Porträts von verurteilten Mördern. Tod, Sexualität, Migration – der Meister der Provokation hat vor keinem Tabuthema Halt gemacht. Er war „woke“, bevor es zum umstrittenen Begriff wurde – und sammelte Kritik und Bewunderung gleichermaßen. Im Museum für Gestaltung in Zürich ist nun die erste umfassende Retrospektive seines Schaffens zu sehen.
Täglich öffnen wir Social Media und lassen uns vom Strudel des Scrollens verschlucken. Dort treffen wir zwischen der Selbstdarstellung und den inspirierenden Zitaten auch auf die Grausamkeiten, die in der Welt so passieren. Zu den hochglanzpolierten Selfies gesellen sich dann Bilder von Kriegstoten – und unser Gehirn muss alles in Sekundenschnelle irgendwo einordnen und verarbeiten. Selbst das akribische Kuratieren des eigenen Algorithmus schützt nicht vor grotesken News. Einzelne besorgte Stimmen werfen ab und zu das Wort Desensibilisierung in die Runde, aber groß ist der Aufschrei nicht – oder wir sind alle sehr gut darin, die offensichtlichen Missstände in die hinterste, dunkelste Ecke unserer Gefühlswelt zu verbannen. Wenn uns Schlagzeilen und Schreckensbilder kaum mehr berühren, dann lässt uns auch ein Werbeplakat mit Schockmessage kalt, oder?
Zwischen Hedonismus und Gesellschaftskritik
Dass Werbung, die Modeindustrie und gesellschaftliche Missstände einst ein Dream Team waren für KünstlerInnen, die eine Reaktion vom Publikum wollen, bewies Oliviero Toscani während Jahrzehnten. Er hat zusammengeführt, was eigentlich nicht zusammengehört. Aber von vorn: 1961 startet Toscani an der Kunstgewerbeschule Zürich (heute Zürcher Hochschule der Künste) in der Fotoklasse. Noch als Student gewinnt er einen Wettbewerb und wird nach New York eingeflogen. Er arbeitet an ersten Modeshootings und taucht parallel in die Street-Photography-Szene ein. Vor allem die Black Community und die wilde Partykultur haben es dem Italiener angetan: Er lichtet exzentrische PartygängerInnen in den legendären New Yorker Clubs Limelight und Studio 54 ab, porträtiert schwarze AmerikanerInnen. Und schließt mit keinem geringeren als Andy Warhol Freundschaft, den er ebenfalls immer wieder vor seiner Kamera inszeniert.
Während in den Medien heutzutage eifrig über Rassismus, Wokeness und Identitätspolitik gestritten wird, als wären es brandneue Themen des 21. Jahrhunderts, hat Toscani stets einfach gehandelt. So überzeugt er 1972 L’Uomo Vogue, in einem Heft ausschließlich People of Color abzubilden. Dies gelingt ihm, weil er sein Material zu spät einreicht und das Magazin so gar keine andere Wahl hat. Toscani war auf seine Art „woke“, bevor der Begriff totdiskutiert und jeglicher Bedeutung entleert wurde. Rassismus, Migration, Geschlechtsidentität – die heißen Themen von heute haben Toscani immer interessiert. Sexuell befreite Menschen waren für ihn ein beliebtes Sujet genauso wie Ausbeutung, Kinderarbeit und Krankheit. Hedonismus und Gesellschaftskritik gehen bei Toscani Hand in Hand.
Im Radikalisierungsrausch
1982 beginnt Toscanis Benetton-Ära. Die Anfänge sind fast brav, denn immerhin ist die Benetton-Kleidung noch auf den Kampagnen zu sehen. Schnell kristallisiert sich aber heraus, dass Toscani mit der Marke mehr will, als Mode zu bewerben. Ab 1989 ist auf den Benetton-Kampagnen gar keine Mode mehr zu sehen. Eine nackte schwarze Frau, die ein weißes Baby stillt, ein Priester und eine Nonne beim innigen Kuss: Provokation ist längst Toscanis zweiter Vorname. Seine Kampagnen sind ein Mittel, Themen an die Gesellschaft zu tragen, über die sonst nicht berichtet wird. Immer weiter entfernen sich so die Mode und das Objekt von der Kamera. Die blutverschmierte Kleidung eines Gefallenen aus dem Bosnienkrieg, das magersüchtige Model Isabelle Caro, das wenige Jahre nachdem das Foto aufgenommen wurde, verstarb, ausgebeutete Kinder bei der Arbeit: Ist das überhaupt noch Werbung? Und wenn ja, wofür?
Da geht noch mehr, scheint Toscanis Devise zu sein. Dass niemand über Aids spricht, verhandelt er in einem Benetton-Plakat, das einen sterbenden Aidskranken und seine Familie zeigt. Auch dafür hagelt es Kritik, doch letztendlich leistet Toscani einen bemerkenswerten Beitrag zur Aufklärung über Aids. Sein eigenes Benetton-Magazin „Colors“ widmet dem Thema eine Ausgabe, und darin geht es nicht darum, zu schockieren, sondern die Menschen darüber aufzuklären, wie sie sich vor der Krankheit schützen können.
Bis an die Grenze und darüber hinaus
Aber darf man Menschen, die im Sterben liegen, auf einem Werbeplakat eines Modehauses abbilden? Oder arbeitende Kinder, die nicht einmal wissen, dass sie auf Plakaten in aller Welt zu sehen sind? Gibt es eine Grenze zwischen Werbung und Modefotografie, Kunst und gesellschaftlicher Aufklärung? Bei Toscani nicht, und so wird ihm immer wieder vorgeworfen, gesellschaftliche Probleme und die Schicksale einzelner Menschen für die Werbung zu instrumentalisieren. Für Toscani schien es nie Grenzen zu geben. Für Benetton schon. Nachdem Toscani im Jahr 2000 zum Tod verurteilte Insassen für eine Kampagne fotografiert, trennt sich Luciano Benetton im Streit von ihm. Zu groß ist der Unmut der Angehörigen von Opfern, als dass Benetton die Kampagne noch irgendwie hätte rechtfertigen können. Doch auch hier lässt Toscani Grenzen verschwimmen, lichtet er doch auch Menschen ab, die fälschlicherweise verurteilt wurden, und somit tatsächlich eine Opfer- und nicht eine Täterrolle einnehmen. Und trotzdem: Einen Mörder auf einem Plakat zu sehen, geht vielen einen Schritt zu weit.
Heute fragt man sich: Wo sind Toscanis NachfolgerInnen? Sind wir wirklich alle so desensibilisiert, dass Werbekampagnen ihre Skandalmagie verloren haben, oder hat sich einfach nie mehr jemand getraut – weder FotografInnen noch Brands – in den Abgründen der Menschheit zu wühlen und dem Publikum das Groteske vor Augen zu halten? Was machen wir mit Bildern, die uns nicht zum Denken anregen, die uns kaltlassen? Wir vergessen sie. Und das ist das allerletzte, was man als KünstlerIn will.
Fotografie und Provokation
Provokation! Nacktheit! Und alle heiklen Themen von Rassismus bis hin zu Aids: Es gibt kaum etwas Kontroverses, das Oliviero Toscani in seiner Fotografie nicht thematisiert hat. Das Museum für Gestaltung Zürich zeigt die erste umfassende Retrospektive seines Schaffens und bringt den Skandalfotografen dorthin zurück, wo seine Reise ihren Lauf nahm: Der heute 82-Jährige war ab 1961 in der Fotoklasse der heutigen Zürcher Hochschule der Künste. Die Ausstellung beinhaltet über 500 Bilder – von seinen Anfängen in New York über die provokanten Benetton-Kampagnen bis hin zu seinen zahlreichen Porträts von Menschen aus aller Welt ist alles dabei.
Oliviero Toscani:
Fotografie und Provokation,
Museum für Gestaltung Zürich Ausstellungsstrasse 60, 8005 Zürich
12. April bis 15. September 2024
www.museum-gestaltung.ch
Du willst die Provokation hautnah erleben? Dann nichts wie los ins Museum für Gestaltung in Zürich!
Ebenfalls umwerfend finden wir die Bilder zu unserem Interview mit Modefotografin Lucia Giacani.
Fotos: © Oliviero Toscani / Museum für Gestaltung Zürich