15 Jahre – vergangen wie ein holpriger Economy-Flug von Deutschland nach Nepal. Hier sucht Helge Timmerberg nach dem Yogi, der ihm damals im Himalaja die Angst nahm. Wie die Reise beginnt, lesen Sie hier, und wie Sie Ihre Angst loswerden in Timmerbergs neuem Buch „Das Mantra gegen die Angst oder Ready for everything“.
Es ist 6.30 Uhr. Ich habe zwei Nächte nicht geschlafen. Ich bin nicht in Form für die Einreiseformalitäten. Am Visaautomaten fühle ich den Schweiss auf meiner Stirn. Man bekommt das Visum entweder bei der nepalesischen Botschaft im Heimatland oder hier. Ich war mal der Meinung, hier gehe es schneller, aber das glaube ich jetzt nicht mehr. Ich stehe vor dem Computer und gebe die Daten ein, die er von mir verlangt. Er verlangt zu viel. Die Adresse des Hotels? Ich habe kein Hotel. Ich wohne bei Scarlett. Ihre Adresse habe ich allerdings auch nicht. Und keine Telefonnummer. Ich habe nur einen vor drei Tagen abgerissenen Mailwechsel mit ihr. Sie schickt mir einen Fahrer, weil in Kathmandu Adressen nichts nützen, schrieb sie, und das war der letzte Stand der Dinge. Sie war in London und wollte zwei Tage vor mir los. Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört. Vielleicht ist sie gar nicht geflogen, vielleicht hat sie ihr Haus in Kathmandu nicht wieder oder ganz anders vorgefunden, als sie es vor Monaten verliess, vielleicht hat sie auch keine Lust mehr auf mich oder generell auf Besuch, sie ist Wassermann, wie ich, bei uns weiss man selten, was als Nächstes passiert. Für Antworten wie diese gibt es auf dem Monitor des Visacomputers kein Kästchen und auch keine Möglichkeit, sie zu formulieren. Hinter mir wächst die Schlange.
Aufgeben. Wie schön wäre es jetzt, sich einfach umzudrehen und nach Haus zu gehen. Ich bin zu alt für diesen Scheiss und für den, der noch kommt. Überschwemmungskatastrophe im Süden, 1’800 Tote, weggeschwemmte Strassen, halb Nepal ohne medizinische Versorgung, ein Land im Ausnahmezustand, nur Kathmandu funktioniert noch halbwegs normal, was aber auch kein Trost ist, denn normal heisst hier: Staus, Smog, Schlamm und Pfützen. Und jede Menge Unfälle. Schreibt unser Auswärtiges Amt. Es empfiehlt, Nepal derzeit zu meiden oder nur nach Kathmandu zu reisen, wenn es wirklich zwingend ist. Wie zwingend ist das Mantra gegen die Angst? Wie zwingend ist der Yogi Kashinath? Wie zwingend ist mein Aufbruch in die Freiheit? Wie zwingend ist mein nächstes Buch? Und wie zwingend ist noch dazu der Augenblick? Soll ich zur Seite treten, mich in irgendeine Ecke setzen und so lange weinen, bis mich die Putzfrau nach draussen fegt?
Was machen sie eigentlich mit den Visa? Was erhoffen sie sich davon? Mehr Informationen, mehr Kontrolle, mehr Sicherheit? Ich glaube, das alles interessiert sie einen Dreck. Sie wollen Geld. Und ich gebe es gern einem der ärmsten Länder der Welt, auch ohne den Stress am Automaten oder in den Botschaften, einfach so, 40 Dollar für 30 Tage, cash auf Tatze und Namaste. Was tut weniger weh? Korruption oder Bürokratie? Teufel oder Beelzebub? Terror oder Anarchie? „Man muss den Einzelfall prüfen“, sagt mein neuer Freund dazu. Ich treffe ihn, als ich mit allem durch bin und vor dem Flughafen stehe. Freund ist natürlich übertrieben, Schicksalsgenosse stimmt. Sein Fahrer ist wie meiner nicht gekommen. Seiner, weil ihm auf der Fahrt zum Flughafen der Wagen zusammenbrach und erst ein neuer organisiert werden muss, von meinem Fahrer weiss ich nichts. Keinen Namen, keine Nummer, und ich weiss auch nicht, sollte er doch noch kommen, was er von mir weiss. Hat ihm Scarlett ein Schild mitgegeben, auf dem mein Name steht? Und wenn ja, welcher? Helge? Tim? Mein Familienname? Kennt sie den überhaupt? Oder hat sie ihm nur gesagt, der Typ sieht aus wie Jesus, aber dicker?
Das Wetter: kein Regen, aber auch keine Sonne und kein noch so flüchtiger Ausblick auf die Gipfel des Himalaja. Die Berge sind über den Wolken, darunter sehe ich im fahlen Morgenlicht auf Taxischrott, eine nasse Fahrbahn, und ab der anderen Strassenseite beginnt viel Lehm. Wäre ich auf einem Acker gelandet, würde es ähnlich aussehen. Nachdem alle anderen Passagiere irgendwie abgeholt und abgerollt waren, blieben da nur noch ich und dieser gut gekleidete Herr mit den freundlichen Augen, und so kamen wir ins Gespräch. Er ist Nepali, lebt in Washington, und seine Branche ist „Energie“. Er elektrifiziert die dunklen Flecken der Erde. Mal in Pakistan, mal auf Kuba, auch hier in Nepal. Ich weiss noch nicht und werde es vielleicht auch nie in Erfahrung bringen, ob als Wissenschaftler, Ingenieur oder Manager, aber er ruht in der Ausgeschlafenheit der Businessclass. Da ruhe ich nicht. Ich bin ein Economy-Schriftsteller. Aber immerhin.
Ob gross oder klein, alt oder jung, klug oder dumm, arm oder reich, schwarz oder weiss, Mann oder Frau, ob Kapitalist, Kommunist, Anarchist oder Monarchist, gläubig oder Nihilist, Feigling oder Held, egal, es ist immer dasselbe. Wie beim Diesel. Dass ich Bücher schreibe, bringt die Leute zum Vorglühen, und sobald sie erfahren, dass ich davon leben kann, springt ihre Zündung an. Das ist mehr als Interesse, sogar mehr als Respekt. Das ist schon Liebe. Wollte ich deshalb seit frühester Kindheit Schriftsteller werden? Dann habe ich meine Zeit verschwendet. Wer sich nicht selbst lieben kann, ist wie ein schwarzes Loch, in dem alles Licht verschwindet. Aber praktische Vorteile hat das Ansehen meines Berufs natürlich ohne Ende.
In fast regelmässigen Intervallen kommen Taxis vorbei, um uns abzufischen, und auch neben uns stehen Männer mit Pappen in der Hand, auf denen „Pilgrims Inn“ oder „Buddha Lodge“ zu lesen ist. Ich glaube nicht mehr an Scarletts Fahrer. An die Verheissungen der Pappen glaube ich aber auch nur bedingt. Deshalb frage ich den nepalesischen Energieexperten aus Washington, ob er mich mit zu seinem Hotel nehmen kann, sobald sein Wagen gekommen ist, und er sagt Ja. Es wird ihm eine Freude sein. Und er will versuchen, dass auch ich ein Zimmer zum verbilligten Preis bekomme, wie er und die anderen Teilnehmer der Energiekonferenz, für die er hierhergeflogen ist.
„Sind Sie zum ersten Mal in Nepal?“, fragt er.
„Zum zweiten Mal. Vor 15 Jahren bin ich mit einem Yogi im Annapurna-Massiv unterwegs gewesen. Bis Muktinath.“
„Oh, ich war auch in Muktinath.“
„Als Pilger?“
„Nein, wir haben die heiligen Quellen nützlich gemacht. Das Wasser verrohrt, damit es Turbinen antreiben kann. Seitdem haben sie im Dorf Strom.“
Und ich wunderte mich damals, warum das Wasser, unter dem sich Kashinath die Sünden abwusch, aus Rohren sprudelte. Sie ragten ein paar Zentimeter aus dem Berg heraus. Und es sah etwas unheilig aus. „Aber Turbinen brauchen sie heute nicht mehr. Inzwischen haben sie Masten da oben und sind voll elektrifiziert. Und es gibt auch eine Strasse nach Muktinath. Sogar einen Helikopter-Shuttle. Sie können von Pokhara direkt bis zu den Quellen fliegen. Wollen Sie das?“
„Nein, ich will nur den Yogi wiederfinden. Er hat mich sehr fasziniert.“
„Was war seine Philosophie?“
„I’m ready for everything.“
Der Nepali lächelt. Das kann ich so oder so verstehen. Um sicherzugehen, dass er mich nicht für leichtgläubig hält, erzähle ich ihm, a) wie ich diesen Satz interpretiere und b) wie der Yogi gecheckt wurde. Zu a: Bereit für alles zu sein bedeutet, keine Angst mehr zu haben, und wer keine Angst hat, keine einzige, auch nicht die klitzekleinste, ist frei, und wer frei ist, hat alle Kräfte, die von der Angst absorbiert werden, zur freien Verfügung. Um, zum Beispiel, noch tiefer in die Angstlosigkeit zu gehen. Zu b: Am Ende unserer Wanderschaft flogen wir von Jomson nach Pokhara zurück, und die Maschine wäre auf ihrem kurzen Flug drei Mal fast abgestürzt. Es war ziemlich krass. Beim ersten Mal lachten noch einige der etwa 30 Passagiere, beim zweiten Mal nicht mehr, und beim dritten Mal war die Hölle los. Panik. Alle schrien in Todesangst, auch ich, nur der Yogi neben mir blieb so tiefenentspannt mit allem einverstanden, wie ich ihn seit zwei Wochen erlebt hatte.
„Welche Fluggesellschaft war das?“
„Shangri-La Air.“
„Aber die ist doch wirklich abgestürzt.“
„Ja, ein Jahr später. Ich habe die Fotos von der zerschellten Maschine in den Zeitungen gesehen. Sie können mir glauben, das war unheimlich.“
Sein Fahrer ist da. Die in den Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes beschriebenen Strassen von Kathmandu sind leider schlimmer als beschrieben. Das liegt, glaube ich, nicht an den mangelnden Fähigkeiten des Verfassers, sondern daran, dass sie unbeschreiblich sind. Das Hotel befindet sich etwa zehn Kilometer ausserhalb der Metropole, aber wir sind noch immer in einem Randbezirk und nicht etwa in der Wildnis. Auf einer der Hauptverkehrsadern der Stadt quälen wir uns im Schneckentempo über eine eigentlich unbefahrbare Piste, aber alle befahren sie. Alle gegen einen und einer gegen alle. „No rules“, sagt der Fahrer. Jeder nutzt seine Chancen, obwohl keiner eine hat. Schlaglöcher, Mulden, Querrinnen und Gräben lösen sich quasi ohne problemfreie Übergänge ab, und alle sind mit schlammigem Wasser gefüllt, man sieht nicht ihre Tiefen. Was vom grossen Erdbeben übrig blieb, wird nun vom Monsun gefressen. Dass der erste Wagen für meinen Flughafen-Freund zusammenbrach, wundert mich jetzt kein bisschen, mich wundert nur, dass der zweite noch fährt. Unermüdlich arbeitet die Strasse an seiner Ruinierung, die Stossdämpfer sind, wie mir scheint, schon weg. Es schockiert mich nicht, es belustigt mich eher, aber als ich spüre, dass meine Bandscheiben nun die Stossdämpfer sind, erkenne ich den Ernst der Lage. Es braucht ein neues Reisekonzept. Über diese Strassen kann ich auf meiner Suche nach Kashinath nicht lange fahren. Und gehen auch nicht. Es regnet grad nicht, aber fast wünschte ich es, damit der Regen die Luft rein wäscht. Die Fenster unseres Kleinwagens sind geschlossen, und die Aircondition ist an, darum rieche ich den Smog nicht. Ich kann ihn nur sehen. Das ist nicht schön. Eine Welt ohne Licht, und auch die Farben haben gegen das Grau verloren. Die Reklameschilder der Läden, Werkstätten und Chaibuden knallen nicht mehr, den Saris der Frauen ist der Zauber genommen, das bunte Asien ist weg. Auch das Lächeln ist verschwunden. Jeder Zweite trägt eine Atemmaske aus einem dünnen weissen Stoff oder hat einen Schal um Mund und Nase geschlungen. Und wer darauf verzichtet, schaut so traurig aus der Wäsche wie die Frau, an der wir gerade vorbeifahren, eine junge, schöne Frau mit ihrem Baby im Arm. Vielleicht ist es auch ihr Mann, der sie traurig macht, oder jemand ist gestorben, es gibt viele Gründe, warum eine junge Mutter schlecht drauf sein kann, aber für mich ist das ein Smog-Gesicht.
Wir fahren über eine Brücke, unter der ein dunkler Fluss Abwasser und Unrat transportiert, danach sind wir nicht mehr in Kathmandu, und die Strasse wird noch schlechter, aber auch grüner zu beiden Seiten. Da ist ein Wald, es stellt sich heraus, dass er zum Hotel gehört. Ein Schlagbaum öffnet sich, ein Wachmann salutiert. Es geht bergauf, die Strasse wird gut, von dem Horrorverkehr ist nichts mehr zu sehen. Nur noch Bäume und hier und da Orchideen. Ich wusste es. Mein Flughafen-Freund ist eine Qualitätsbekanntschaft. Er führt mich an genau den Ort, den ich jetzt brauche. Das Hotel hat fünf Sterne und eine zehn Kilometer lange Golfwiese.
„Namaste.“
Die Empfangsdame schmilzt dahin vor Freude, ihren Job machen zu dürfen. Synchron dazu schmilzt der Preis für mein Zimmer. Von 250 auf 150 Euro in maximal 60 Sekunden. Aber es ist in einem Nebengebäude, und der Weg dahin ist manchen Gästen zu weit. Darum ist es billiger. Spricht sie von Trekking? Nein, von etwa 200 Metern. Es wird ein schöner Spaziergang durch die kultivierte Natur des Himalaja in 1400 Meter Höhe. Ein paar Äffchen und der Page begleiten mich. Aber nicht nur der Weg, auch das Ziel lohnt sich. Ein Fünfsterne-Reiseschriftstellerzimmer, mit hohen Wänden, vielen Fenstern, grossem Bett und einem Schreibtisch, dem zuzutrauen wäre, dass er ein Buch selbst verfasst. Man braucht nur Platz zu nehmen, und aus dem Holz steigen Sätze empor.
„Darf ich rauchen?“ – „Natürlich, Sir“, sagt der Page. Endlich im Internet, endlich Scarlett. Zwei Mails. Das von vorgestern schrieb sie in der Transithalle von Neu-Delhi und ist wenig hilfreich im Moment, denn sie schwört darin, dass der Fahrer am Flughafen sein wird, doch das Mail von gestern kommt der Wahrheit näher. Nach dreimonatiger Abwesenheit habe ihr Haus sie in einem totalen Chaos empfangen, und es sei vielleicht besser, ich würde für die erste Nacht ein Hotel nehmen. „Ruf mich an.“ Und endlich ihre Telefonnummer.