Spontane Ideen sind meistens die besten. Im Falle von Otto Drögsler und Jörg Ehrlich hat eben jener Geistesblitz zur Gründung ihres eigenen Labels Odeeh geführt. Seitdem gehört das Duo zu Berlin wie der Alex oder das Berghain. Die Jahre vergehen, die Modebranche ändert sich – aber Drögslers und Ehrlichs Leidenschaft für Textilien, für gute Schnitte und den Laufsteg bleiben.
FACES: Zu viele KöchInnen verderben den Brei. Wie schafft ihr es, zu zweit stets einen Konsens zu finden?
Otto Drögsler & Jörg Ehrlich: Manchmal sind viele Köche auch gut, damit nicht alles gleich schmeckt. So würden wir es jedenfalls im Hinblick auf unser Arbeitsprinzip beschreiben.
F: Welche Diskussion zwischen euch war bisher die ärgste?
OD & JE: Immer die letzte, sofern sie denn eine echte Auseinandersetzung darstellte. Wir diskutieren die wichtigen Dinge immer sehr leidenschaftlich, wissen aber aus Erfahrung, dass wir und Odeeh das immer aushalten.
Der Alltag als Designer
F: Zeichnet ein ungeschöntes, realistisches Bild des Alltags als Designer!
OD & JE: Wir sind ja beides, Designer UND Unternehmer. Und in dieser permanenten Ambivalenz bewegt sich unser Alltag und das Arbeiten an der Kollektion und an der permanenten Weiterentwicklung von Odeeh. Der Alltag ist aber sicher viel unglamouröser, als man sich das oft vorstellt. Wenn man überhaupt von einem Alltag reden kann.
F: Welcher Moment im Produktionsprozess eurer Kollektionen ist euch der liebste?
OD & JE: Eigentlich der echte Beginn. Also der Moment, wo wir gedanklich loslegen und ideell und abstrakt die ersten Leitlinien definieren. Und dann wieder diese letzte Phase, bei der es um das Styling und die finale Aussage der Kollektion geht. Alles dazwischen ist wirklich harte Arbeit.
Das steckt hinter dem Labelnamen Odeeh
F: Was bedeutet eigentlich euer Labelname?
OD & JE: Odeeh ist ein Buchstaben-Mix zusammengesetzt aus unseren jeweiligen Namen: OD für Otto Drögsler. Ein E dazwischen für ein lateinisches UND. Und dann das EH für den Nachnamen von Jörg Ehrlich.
F: Ihr habt einmal gesagt, Kreation brauche immer auch Zeitdruck, Chaos und Überforderung. Kreiert ihr diese Zustände etwa durch knappe Deadlines extra, und wie schafft ihr es, euch im Chaos nicht zu verlieren?
OD & JE: Chaos und Überforderung können etwas grundsätzlich Gutes beinhalten, so wie wir es zumindest begreifen, wenn es um den Kollektionsprozess geht. Reißbrett-Timings provozieren schnell immer nur Bekanntes. Chaos und unkontrollierte Phasen in einer Kollektions-Entstehung holen uns raus aus der Box des „so machen wir es doch immer“-Denkens. Ohne Überforderung wird man nicht zum Gewinner, sondern eher zum Verwalter des Status Quo.
F: Liegt diese Herangehensweise vielleicht auch daran, dass ihr Odeeh damals während der Finanzkrise aufgebaut habt?
OD & JE: Guter Gedanke, könnte sein. Wahrscheinlich hat uns das geprägt. Vielmehr aber sicher auch die Tatsache, dass wir das ja alles schon eine geraume Zeit machen und vor Odeeh schon viel Erfahrung in der sogenannten „Industrie“ machen konnten. Fest steht: Man braucht verdammt viel Widerstandskraft und Energie, um nachhaltig in dieser Branche zu bestehen.
Von kreativen Korsetten und Rebellion
F: Ihr sagt, ihr arbeitet nicht mit einem Moodboard, um euch nicht einzuengen. Schaffen die Historie von Odeeh und eure sowie die Erwartungen eurer KonsumentInnen nicht dennoch in einer Form ein kreatives Korsett?
OD & JE: Ach, Korsett würden wir es nicht nennen wollen, das klingt so nach Einengung, nach Atemlosigkeit und Starre. Wir sehen die Historie von Odeeh, unsere KundInnen und alles, was wir bereits gemacht haben, eher als Geländer, an dem wir uns orientieren. Gleichzeitig muss man aber auch stets im Gehirn Platz schaffen für die neue Portion – das Unerwartete, den vielleicht weißen Fleck von Odeeh, den es zu entdecken gilt. Zu viel DNA-Erfüllung ist da nie gut.
F: Versteht ihr euch mit eurer Herangehensweise an eure Kollektionen und an Mode auch als Rebellen?
OD & JE: Das sollen eher andere beurteilen, wir würden die Beschreibung für uns so nicht vornehmen. Aber wenn es jemand über uns sagen würde: Das wäre eher ein Kompliment in unseren Ohren.
F: Ihr sagt, es gäbe zahlreiche unterschiedliche Möglichkeiten davon, Odeeh zu interpretieren. Ist das der Schlüssel dazu, mit euren teils sehr unterschiedlichen Looks erfolgreich zu sein?
OD & JE: Hoffentlich ist das so! Wir empfinden Uneindeutigkeit, vielschichtig zu sein und den visuellen Widerspruch an sich als etwas extrem Positives. Wir machen Mode, und Mode lebt von Veränderung und Individualität. Wir wollen nicht belehren, sondern schlagen etwas vor. Die Frau, die sich etwas von Odeeh leistet, hat mit ihrer eigenen Interpretation davon immer recht, egal wie wir das finden.
F: Was ist beim Sourcing neuer Materialien und Stoffe am wichtigsten; arbeitet ihr immer mit denselben HerstellerInnen zusammen, oder wie entdeckt ihr neue?
OD & JE: Es gibt einen Stamm von WeberInnen, mit denen wir von Beginn an zusammenarbeiten. Diese machen etwa 40 bis 50 Prozent unserer ProduzentInnen aus, der Rest verändert sich ständig. Diese Rezeptur hat sich über die Jahre bewährt und sorgt für beide Pole: Stabilität und Veränderung.
Die Modebranche verändert sich
F: Was hat sich in der Modebranche seit der Gründung von Odeeh 2008 geändert, was euch freut, und welche Neuerung passt euch gar nicht?
OD & JE: Wir sind, was Veränderungen anbelangt, eher demütig, und freuen uns über das Prinzip der Veränderung und Erneuerung genauso, wie wenn bestimmte Faktoren beständig bleiben. Wir kommentieren Veränderung nicht. Im Prinzip würden wir sagen: Alles ist gut. Das ist kein oberflächlicher Versuch, der Frage auszuweichen, sondern beschreibt eher die Haltung, dass wir darauf bauen, dass sich das Sinnhafte immer durchsetzt und das Dumme, Sinnlose eh wieder irgendwie verschwindet.
F: Fürchtet ihr euch vor der Zukunft oder freut ihr euch darauf?
OD & JE: Wir freuen uns darauf. Mit viel Respekt davor.
F: Die Modebranche wird viel kritisiert. Ist saison- und trendunabhängige Unisex-Mode the way to go?
OD & JE: Das Saison-Ding ist ja im Denken der meisten eh schon etwas verschwunden. Und wenn man wie wir für verschiedene klimatische Zonen arbeitet, dann nivelliert sich der Gedanke nach eindeutigen Sommer- oder Winter-Kollektionen eh ein wenig. Aber dennoch: Einen schweren Mantel brauche ich eher im Dezember und weniger im Juni. Da unsere wichtigsten Märkte Nordeuropa, die USA, Kanada und Japan sind, wird es gewisse Schwerpunkte immer geben. Aber dennoch: Wir alle kaufen nicht, weil wir einen echten Bedarf haben, sondern weil wir etwas haben wollen. Da geht es ums haben wollen, eine emotionale Ebene, weniger um die Frage: Ich brauche einen Schirm, weil es draußen regnet.
F: Verunsichert euch die Abkehr des Denkens von Saisons, Trends, Key-Looks und It-Pieces?
OD & JE: Nein, gar nicht, im Gegenteil. Das ist doch alles eher befreiend.
Nachhaltiger Modekonsum?
F: Wer sich in unserer Bubble mit Mode beschäftigt, gewinnt den Eindruck, dass in Sachen Nachhaltigkeit und nachhaltigem Modekonsum tatsächlich etwas geht. Blickt man über den Tellerrand und betrachtet die Absatzzahlen von Inditex, Shein und Co., könnte man einfach nur weinen. Was muss passieren, dass die Schere nicht weiter auseinandergeht und der weltweite Modekonsum tatsächlich nachhaltig wird?
OD & JE: Der weltweite Konsum wird nur dann nachhaltiger werden, wenn diese Nachhaltigkeit auch bezahlbar ist und wird. Wir sind zum Glück an einem Punkt, wo Mode nicht mehr elitär stattfindet und man in der unteren Stufe nur geschmackloses Zeugs bekommt. Man kann sich, wenn man will, mit wenig Geld sehr gut anziehen – das ist zunächst einmal gut. Viele der großen Player bewegen sich in dieser Hinsicht ja auch. Machen wir uns nichts vor: Wenn Inditex Nachhaltigkeitsprogramme entwickelt, dann hat das unter Umständen mehr Impact und Wirkung, als wenn kleinere Labels das tun. Am Ende bestimmen die KundInnen, was produziert wird. Aber Fakt ist: Bei diesen Fragen wird eine gewisse Ambivalenz bleiben, die wir aushalten müssen. Die echte, wahre Alternative wäre: Kauf dir gar nichts. Und das kann nicht die Idee sein, es hängen viel zu viele Existenzen von unserem System ab. Das kann man alles bedauern, kritisieren, whatever. Aber es ist ein Fakt.
F: Früher waren Modeschauen einem kleinen Kreis vorbehalten und vor allem wichtig für EinkäuferInnen und JournalistInnen, heute sind sie richtige Entertainment-Spektakel und ein Celebrity-Hotspot. Ist das überhaupt notwendig, und wie beurteilt ihr diese Entwicklung?
OD & JE: Wir beobachten, dass es beides gibt. Und jede DesignerIn, jedes Label, jede Marke muss sich der Frage stellen: Was passt zu mir? Was Odeeh anbelangt, würden wir immer sagen, dass wir unsere Shows doch eher an das Fachpublikum richten, weil hier ja primär die Entscheidungen getroffen werden, was für die Geschäfte eingekauft wird. Gleichzeitig spüren wir aber auch die darüber hinausgehende Relevanz einer Show. Irgendwie ist also beides gut und heute wahrscheinlich nicht voneinander zu trennen. Dennoch muss man als Marke priorisieren, was man in erster Linie will.
F: Der Luxusbegriff hat sich stark gewandelt. Was bedeutet er für euch persönlich, und sollte Mode allgemein als Luxus verstanden werden?
OD & JE: Für uns sehr persönlich findet Luxus primär eher im Nichtmateriellen statt. Zeit mit FreundInnen zu verbringen, zuhause zu sein, Zeit zu haben, großzügig sein und sich etwas qualitativ Tolles leisten zu können: All das kommt uns in den Sinn, wenn es um uns und diese Begrifflichkeit geht. Luxus findet heute sehr individuell statt. Für uns geht es dabei sicherlich um etwas manufakturell Gemachtes, vielleicht etwas Limitiertes. Für den einen ist es ein Tag im Spa, für den anderen ein Glas Champagner und den nächsten ein Kaschmir-mantel oder ein Designergürtel, der in Masse hergestellt wird. Beides geht, beides ist fein. Alles stimmt, wenn es für die Person stimmt, die es so für sich sieht.
F: Ist es anstrengender geworden, Mode zu entwerfen, oder im Gegenteil vielleicht sogar leichter?
OD & JE: Für uns ist es leichter geworden, so merkwürdig das vielleicht klingt. Aber das ist wirklich eine Kopfsache. Man darf dem Ganzen nicht zu viel Gewicht und Bedeutung geben. Dann behält alles eine Leichtigkeit, ohne dass es nachlässig wird.
F: Versteht ihr eure langjährige Erfahrung als Vorteil gegenüber jungen KollegInnen, entspannter an eure Arbeit herangehen zu können?
OD & JE: Wir kennen ja nur uns und unseren bis jetzt gegangenen Weg. Aber wir sind froh, diese Erfahrung im Rücken zu haben. Erfahrung, wenn man sie dosiert in Betracht zieht, bei allem was man tut, kann schon unendlich hilfreich sein.
Mode darf alles!
F: Was kann Mode, was darf sie alles, und was muss sie sein?
OD & JE: Mode darf erst einmal alles, wirklich alles – und genau das muss sie auch sein, alles darf passieren. Diese Do-and-Don’t-Listen finden wir schrecklich. Alles, was aus dieser freiheitlichen Haltung entsteht, müssen wir visuell aushalten – ob es uns persönlich gefällt oder nicht.
F: Odeeh ist bunt, opulent, verspielt. Könnt ihr MinimalistInnen verstehen?
OD & JE: Wir würden uns eher als farbig beschreiben, bunt zu sein, wäre uns zu beliebig. Wir erlauben uns, alles ein wenig zu sein, wenn uns danach ist – weshalb sollten wir uns da einengen? Manchmal sind wir ja auch minimalistisch. Klar, auf jeden Fall verstehen wir MinimalistInnen. Allerdings finden wir, dass Minimalismus und dieser Quiet-Luxury-Gedanke immer so moralisch und prüde daherkommen. Nach dem Motto: Wir machen es besser, wir sind nachhaltiger, weil wir dezenter sind. Gut gemachter Minimalismus ist das Tollste überhaupt. Aber etwas Minimales muss eben wirklich on point gemacht sein, sonst ist es einfach banal und optisch schlecht. Minimalismus ist ja kein Wert an sich, sondern ein ästhetisches Prinzip, das eben auch häufig als „der bessere Weg“ benutzt und missbraucht wird. Das stört uns vielleicht.
F: Sind eure Fantasie und Kreativität nach so vielen Jahren im Business nicht irgendwann erschöpft?
OD & JE: Nein. Fantasie ist ja keine endliche Ressource, sondern eher ein Prinzip, mit dem man leben will. Das ist eine grundsätzliche Entscheidung, keine Kiste, die leerer wird, je mehr man da
rausholt.
F: Escada, Rena Lange, Karl Lagerfeld, Chloé und René Lezard reihen sich in euren CVs aneinander. Die Gründung eures eigenen Labels war euer Befreiungsschlag, ihr habt das einmal als „High-End-Freestyle“ bezeichnet – seht ihr letzteres auch heute noch so, und könntet ihr euch vorstellen, wieder für ein anderes Modelabel zu arbeiten?
OD & JE: „High-End-Freestyle“ trifft es immer noch. Das würden wir heute noch genauso schreiben. Und es ist schön, das in dieser Frage wieder mal reflektiert zu bekommen, weil es an unseren Start erinnert und deutlich macht, dass wir uns in dieser Hinsicht sehr treu geblieben sind. Was andere Labels angeht: Warum nicht? Odeeh hat immer Vorrang, das ist klar, aber wir haben in den vergangenen
Jahren ja an vielen parallelen Projekten gearbeitet, und das war stets bereichernd für beide Seiten.
Raus aus der Mode
F: Könnt ihr euch vorstellen, der Modebranche den Rücken zu kehren? Was würdet ihr stattdessen tun?
OD & JE: Die Frage stellen wir uns offen gestanden nicht. Aber wenn es denn so sein sollte: Der eine (Otto) wäre sicher viel im Garten, der andere (Jörg) würde sich viel mit Interior beschäftigen.
F: Man sieht euch oft in monochromen und sehr klassischen Looks. Damit entsprecht ihr dem Klischee der DesignerInnen im schwarzen Rollkragenpullover. Wie erklärt ihr euch dieses Phänomen, dass kreative Menschen privat oft sehr gedeckte Farben und Basics tragen?
OD & JE: Wir brauchen im Alltag eine gewisse optische Neutralität. Wenn man wie wir viel Zeit damit verbringt, sich über Farben, Dessinierungen, Silhouetten und Prints Gedanken zu machen, dann hilft das eigene dunkelblaue Hemd mitunter schon sehr.
F: Wie grenzt ihr euch privat vom Geschehen auf dem Laufsteg ab? Könnt ihr das überhaupt?
OD & JE: Na klar, können wir das. Es wäre schlimm, wenn nicht. Wir leben ja in der Provinz, haben dort einen großen Garten, verreisen viel und empfangen unsere FreundInnen am Wochenende auf dem Land. Wir empfinden uns nicht als Opfer dieser Branche und können auch anders – zum Glück!
F: Wie trainiert ihr eure Resilienz?
OD & JE: Die entwickelt man im täglichen Tun, die kann man nicht in Seminaren lernen oder sich theoretisch aneignen. Je mehr schon mal schiefgegangen ist und je mehr man dann korrigierend einwirken konnte, desto stärker ist man für das nächste Daneben.
F: Womit macht man euch eine Freude?
OD & JE: Mit seltenen historischen Rosenstöcken, selbstgemachten Postkarten oder selbstgemalten Erinnerungsbildern – da gibt’s vieles, Hauptsache persönlich. Besonders freuen wir uns, wenn uns unsere Nachbarin sonntagnachmittags selbst gebackenen Kuchen vorbeibringt.
ODEEH
Karl Lagerfeld und Jil Sander waren Otto Drögslers Lehrmeister. Gemeinsam mit Jörg Ehrlich hat er später als Creative Director bei René Lezard gearbeitet, bevor die beiden 2008 nach einem Geistesblitz das gemeinsame Modelabel Odeeh gründeten. Mittlerweile gestalten die beiden seit 15 Jahren farbenfrohe und kluge Designs für Odeeh und tun dies heute noch genauso begeistert wie am ersten Tag.
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Teaserfoto & Fotos: © Odeeh