Aus Kunststoff wird Kunst-Stoff, wenn Kevin Germanier seine Designs zu Couture werden lässt. Mit dem Label Germanier produziert der Modeschöpfer in Paris das spektakulärste Upcycling, seit aus ein paar Eisenstangen der Eiffelturm wurde. Im Auftrag von LVMH fungierte er zudem als Creative Director für die frisch lancierte Kollektion The Prélude. Wer so alle Hände voll zu tun hat, behält die Zeit am Handgelenk besser im Blick. Als neuer Markenbotschafter von Uhrenhersteller Omega tut Kevin Germanier dies besonders stilvoll. Worauf es ihm bei einer Uhr ankommt, was ihn als Kind inspirierte und wie er die Modebranche umkrempeln will, verrät uns Kevin im Interview.
Kindliche Fantasie verwandelt Papier in Schmetterlinge und Holzklötze in Wolkenkratzer. Wenn wir klein sind, erschaffen wir Großes aus Dingen, die um uns herumliegen. Die Welt, irgendeine Welt, liegt uns dann zu Füßen und wer nicht aufpasst, tritt mit nackter Sohle auf einen Legostein, den wir irgendwann zum Raumschiff machen. In den Kreationen von Kevin Germanier ist dieser spielerische Ansatz nie verloren gegangen. Geboren im Schweizer Kanton Wallis, zog es ihn zunächst an die Haute école d’art et de design in Genf. Mit 20 Jahren bewarb sich Germanier erfolgreich am Central Saint Martins College of Art and Design in London. Bereits dort verwendete er für seine Entwürfe mehrheitlich Stoffe, die von sonstigen Projekten übrig geblieben waren. Doch sein Markenzeichen entdeckte Kevin am anderen Ende der Welt – und hob einen Schatz, bevor dieser überhaupt vergraben wurde.
Bei einem Aufenthalt in Hongkong beobachtete der junge Designer, wie ein Ladenbesitzer unverkaufte Glasperlen unter die Erde schaufeln wollte, statt sie fachgerecht zu entsorgen. Kevin schwatzte dem Mann den vermeintlichen Unrat ab und integrierte die bunten Klunker prominent in seiner ersten Kollektion. Seither steht der Name Germanier für kaleidoskopische Gewänder und Accessoires. Sein Upcycling von Ausschussware – bei dem oft die eigene Familie handwerklich mit anpackt – ist eine der Arzneien, mit denen das grassierende Fast-Fashion-Fieber bekämpft werden kann. Das stößt inzwischen auch bei den mächtigen Mode-Maisons auf Interesse und könnte somit die Industrie nachhaltig verändern.
Trotzdem bleibt der Designer im Interview auf dem Boden der Tatsachen – oder dem Stuhl der Selbstironie: „Wir hoffen, mit dem Upcycling die Welt ein bisschen zu verändern. Aber es ist auch nicht so, dass wir ein Heilmittel gegen Krebs finden.“ Im Gegensatz zu seinen Kollektionen ist Kevin Germanier wie immer komplett in Schwarz gekleidet und lässt auch im Gespräch nicht von seiner Arbeit ab. Ein charmanter Multitasker, der Großes schafft aus Dingen, die andere herumliegen lassen.
FACES: Ein Markenzeichen deiner Designs sind die knallbunten Farbperlen. Als wir klein waren, kreierten wir damit unsere eigenen Accessoires. Wie war dein kreativer Output als Kind? Was hat dich inspiriert?
Kevin Germanier: Oh, wow. Das ist eine gute Frage. Die Hauptinspiration waren die Frauen in meinem Leben, wie meine Schwester. Die Art, wie sie sich kleideten. Ich dachte mir: Oh, wie interessant. Sie hat dieses Muster mit diesen Farben kombiniert. Außerdem haben mich Videospiele sehr inspiriert. Wenn man sie spielt, muss man oft eine Figur erstellen. Der erste Schritt in einem Videospiel ist zu entscheiden, ob du ein Mann bist oder eine Frau, eine Elfe oder Hexe. Was für eine Rüstung du trägst. Bei einem Spiel wie „Die Sims“ musst du einen Charakter erstellen und das war immer meine Lieblingsbeschäftigung. Die Erschaffung eines Charakters, dem Helden der Geschichte.
F: Wann wurde dir bewusst, dass Mode und Styling nicht nur Anziehsachen sind, sondern ein Ausdruck der eigenen Persönlichkeit?
KG: Wie Lady Gaga vielleicht sagen würde: Ich bin so geboren. Es gibt dieses Foto von mir am Strand von Rimini. Ich bin vielleicht drei Jahre alt und hatte mir aus Meeresalgen eine Perücke gemacht. So war ich schon immer. Ich habe großes Glück. Denn ich wusste früh, was ich will. Und ich bin sehr glücklich damit.
„Ich bin kein cooles Kid. Ich werde nie ein cooles Kid sein.“
F: Du hast inzwischen deine kreative Heimat in Paris gefunden und bist dort sehr erfolgreich. Welche charakterlichen Eigenschaften haben dir dabei geholfen, in der Pariser Modeszene herauszustechen?
KG: Freundlichkeit. Freundlichkeit ist die Nummer eins. Außerdem: Entschlossenheit und Ehrgeiz. Und ein kleines bisschen Verrücktheit, sonst schafft man es nicht. Als ich in der Szene ankam, war Demna noch bei Vetements, also war die Mode sehr von Streetstyle, Kapuzenpullis und lässiger Kleidung geprägt. Und ich kam plötzlich mit einem perlenbesetzten, upgecycelten Kleid. Ich war damals vielleicht zur richtigen Zeit mit der richtigen DNA da, und es fühlte sich frisch an. Eines der Schlüsselelemente ist die Storyline. In der Schweiz wurde ich bekannt, weil ich die Strickarbeiten meiner Oma und meiner Mutter in die Designs integrierte. Dabei fing alles damit an, dass meine Mutter manchmal vor dem Fernseher einschlief und deshalb etwas mit ihren Händen machen musste. Es gab keinen Plan, meine Mutter oder Großmutter als Marketinginstrument zu nutzen. Es ergab sich einfach. Und so merkten die Leute, dass wir echt sind. Das ist vielleicht der Grund, warum sich die Menschen mit uns identifizieren können. Weil wir versuchen, aus Unvollkommenheit Perfektion zu machen.
F: Wie nimmt dich dein professionelles Umfeld wahr?
KG: Wie einen braven Schüler. Und das liebe ich. Ich möchte lieber als ein braver Schüler gesehen werden, als jemand, der während einer Presseveranstaltung auf der Toilette schlimme Dinge tut. Ich bin kein cooles Kid. Ich werde nie ein cooles Kid sein. Es ist mir egal, ein cooles Kid zu sein. Neulich war ich auf einer Veranstaltung und die Gäste fragten mich ständig nach Champagner. Weil sie dachten, dass ich ein Barkeeper oder Kellner bin. Aber das ist völlig in Ordnung.
F: Was sind überholte Gewohnheiten in der Modebranche, die du mit deiner Arbeit aufbrechen willst?
KG: Unhöflich zu sein, egoistisch zu sein. Zu denken, dass ein Creative Director ein Gott ist, der aus dem Himmel des Designs kommt. Nein, das sind wir nicht. Man macht nichts allein. Diese Vorstellung, dass der Creative Director ein Superstar ist, ist so veraltet. Es sind die ganzen Leute, die dahinter stehen. Das reicht von der Buchhaltung über die Studioleitung bis hin zur Personalabteilung und all den Feen, die die Handstickerei machen. Die Idee, dass man in der Modebranche arbeiten will, weil man ein Star sein will, ist ein falscher Ansatz. Es gibt eine Menge sehr, sehr netter Leute in der Modebranche. Diese Vorstellung, dass wir alle unhöflich und arrogant sind, ist völlig überholt.
„Mode ist nicht ernst. Mode macht Spaß.“
F: Ist das etwas, das du selbst erlebt hast und jetzt für die nächste Generation verbessern willst?
KG: Meine Mutter und mein Vater arbeiten mit mir zusammen. Ich weiß also, dass sie mich immer wieder dorthin zurückbringen, wo ich hingehöre. Wir hoffen, mit dem Upcycling die Welt ein bisschen zu verändern. Aber es ist auch nicht so, dass wir ein Heilmittel gegen Krebs finden. Meine Mutter meint, dass wir Licht spenden, und das gefällt mir. Wir geben den Menschen Licht, wir schaffen eine Fantasie. Es ist Teil meiner Aufgabe, die Menschen zum Träumen zu bringen. Aber ich heile keine Krankheiten. Wir müssen also etwas herunterkommen. Manchmal ist es zu ernst. Mode ist nicht ernst. Mode macht Spaß. Das sollten wir nicht vergessen.
F: Du hast das Upcycling erwähnt. Dieses Konzept betreibst du seit Beginn deiner Karriere. Auch viele große Marken verfolgen inzwischen einen solchen Ansatz. Welche Fehler sollte man vermeiden, wenn man nachhaltige Mode für ein großes Publikum entwirft und produziert?
KG: Man kann nicht alles kontrollieren. Wenn wir an einer neuen Kollektion arbeiten, habe ich meistens ein Lieblingsmotiv im Kopf. Aber wenn wir das Material erhalten, wissen wir nie, was genau ankommen wird. Die Fabrik sagt: „Wir haben das, ihr könnt es verwenden.“ Aber dann ist es zum Beispiel nicht dieses Gelb, das ich mir gewünscht habe, sondern ein anderes. Was mache ich nun? Soll ich mich heulend in die Ecke stellen? Oder bringe ich es einfach zum Funktionieren? Ich bringe es einfach zum Funktionieren. Das ist ein Teil des Prozesses. Es ist sehr wichtig, sich an das Material anzupassen und nicht zu denken, dass ich ein Designgott bin, der vom Himmel kommt. Ich bin nur hier, um Lösungen zu finden.
F: Was würdest du jemandem raten, der selbst Teile der eigenen Garderobe upcyceln möchte?
KG: Sei kreativ. Mach nicht einfach nur einen Patch auf den Jeansstoff. Es gibt so viele Möglichkeiten, alles zu verwenden. Sei einfach mutig. Ich sage das, und dabei trage ich immer Schwarz (lacht). Aber habe einfach Spaß daran und nimm es nicht zu ernst.
F: Du bist kürzlich eine Partnerschaft mit Omega eingegangen. Worauf achtest du als Designer bei der Auswahl einer Uhr? Nur auf das Aussehen? Oder spielt auch technische Raffinesse eine Rolle?
KG: Es kommt auf meinen persönlichen Geschmack an, denn wenn ich die Uhr trage, ist es sehr wichtig, dass sie zu mir passt. Als ich das erste Mal zum Fotoshooting für Omega ging, konnte ich zwischen zwei herausragenden Modellen auswählen, der Tresor und der Speedmaster. Ich liebe die Geschichte der Speedmaster, weil sie auch mit dem Mond in Verbindung gebracht wird. Aber als ich die Tresor probierte, war ich begeistert. Diese Uhren sind etwas, das man hoffentlich seinem Sohn oder seiner Tochter schenken wird. So werden sie zu etwas, das nicht nur zeitlos, sondern sozusagen geschlechtslos ist.
„Die meiste Zeit schreibe ich E-Mails. Ich bin im Grunde genommen ein Manager.“
F: Womit wir wieder bei diesem Familiären sind, das bei deiner eigenen Arbeit eine große Rolle spielt. Gibt es sonst noch Werte, die deine Marke mit der von Omega verbindet?
KG: Wir wollen die Leute unsere Authentizität und die Liebe zum Detail spüren lassen.Das ist sehr wichtig für mich, und ich habe diese Sensibilität auch bei Omega herausgespürt. Wie wir uns präsentieren, ist einfach, aber wahrhaftig: Das ist unsere Vision und sie ist zeitlos. Wir versuchen nicht, einem Trend zu folgen. Wir versuchen nicht, einen Stil aufzuzwingen.
F: Wofür hättest du gerne mehr Zeit in deinem Leben?
KG: Meine Kleidermarke beansprucht praktisch meine ganze Zeit. Aber es ist nicht auf eine schlechte Art. Die Leute denken vielleicht „Oh, er ist diese außergewöhnliche Person, er hat bestimmt immer nur Spaß“. Nein, die meiste Zeit schreibe ich E-Mails. Ich bin im Grunde genommen ein Manager.
F: Würdest du gerne mehr Zeit mit dem Design verbringen oder bei der Produktion mehr mit anpacken?
KG: Bei der Produktion, nein. Ich bin so froh, dass ich nicht mehr produziere. Und ich lasse mich gerne von meinem Team überraschen, wenn sie mir beispielsweise eine endgültige Skizze von einem meiner Designs schicken, die meist noch Raum für weitere Kreativität lassen. Dann denke ich: „Oh, ich hätte es gerne so gemacht, aber es sieht eigentlich auch anders ganz gut aus.“ Das gefällt mir. Etwas, das ich gelernt habe, ist das Delegieren. Du musst den Leuten vertrauen, die du bezahlst.
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Fotos: © Germanier, Omega