Um als Traditionsmarke nicht als angestaubt zu gelten, müssen Social-Media-Diskurs und Aufruhr her. Das hat Jaguar locker hingekriegt: Mit einem unkonventionellen Teaservideo und schließlich mit der Enthüllung des Type 00 im vergangenen Dezember an der Miami Art Week. Wir haben uns das Ganze vor Ort angeschaut. Zwischen Strand, Kunst, Party und dem neuen Jaguar in Fleisch und Blut – oder pinkem Stahl und Elektroantrieb – konnten wir Gerry McGovern, Chief Creative Officer von Jaguar, auf den Zahn fühlen.
Weihnachten steht kurz vor der Tür und die Sonne brennt vom Himmel. Alles ist laut und bunt, alle sind in Partystimmung. Doch niemand wartet auf Geschenkebescherung, sondern die Enthüllung eines neuen Autos. Was klingt wie ein Fiebertraum, war im Dezember Realität, als AutofanatikerInnen, It-Girls, Finance-Bros und ja, eigentlich vor allem KunstliebhaberInnen nach Florida an die Miami Art Week pilgerten.
Zwei Wochen vor der Kunsteskapade im Sonnenstaat sorgte ein Video für Wirbel: Attraktive Menschen, bunt durchmischt und genderfluid angehaucht, posieren vor buntem, an KI-Fabrikationen erinnerndem Hintergrund. Slogans wie „copy nothing“, „break moulds“ und „live vivid“ flimmern über den Bildschirm. Ein Fashionfilm? Die Abschlussarbeit einer KunststudentIn? Eine generierte Zukunftsvision unserer Gesellschaft? Alles falsch – es handelte sich um das radikale Rebranding von Jaguar. Hat der britische Klassiker etwa eine Midlife-Crisis? Eher eine Late-Life-Crisis, steuert er doch schon auf die Neunzig zu. Das dachte sich auch das Internet: Sofort fluteten unzählige Memes die sozialen Netzwerke.
Dass im Film kein Auto zu sehen ist – Nebensache. „Ich will jetzt kein Auto zeigen. Wir bauen die Marke gerade von Grund auf neu auf. Das Auto kommt dann schon“, erklärt uns Gerry McGovern – Chief Creative Officer von Jaguar und der Kopf hinter dem Type 00. Am 2. Dezember kam das Auto dann auch. Stunden nachdem erste geleakte Fotos im Internet kursierten, wurde der Type 00 enthüllt.
In den Wochen zwischen dem mysteriösen Video und dem Reveal hat Jaguar das geschafft, was alle Brands wollen: Thema Nummer eins sein. Online wurde lebhaft diskutiert, von belustigten Videos bis zu detaillierten wirtschaftlichen Analysen. Auch diejenigen, die nicht unbedingt Auto-ExpertIn in den CV schreiben dürfen, hatten plötzlich eine Meinung. Ab November 2024 interessierte es plötzlich alle, dass das britische Traditionshaus nun sein Logo ändert und seine gesamte Marketingstrategie auf den Kopf stellt

Ein Leap(er) in die Zukunft
Nach dem Video, das manch ein dramatischer Autofan als woke beschimpfte – „was ist mit der Tradition, der sogenannten Heritage?“ – folgte also die Miami Art Week. Warum will sich der Brite dort positionieren, wo es um Kunst geht? Ganz einfach: Da treibt sich die potenzielle Kundschaft der neuen Jaguar-Ära rum. „Jung, kreativ, künstlerisch, einzigartig, vielleicht ein kreativer Finanztyp“, beschreibt Gerry McGovern die ideale zukünftige BesitzerIn des neuen Jaguars. „Die Leute eben, die an die Miami Art Week gehen. Darum sind wir ja hier“, fügt er an. Tatsächlich tummelt sich aber eine diverse Gruppe im paradiesischen Miami. Jung und Alt, Presse und InfluencerInnen, Models und Supplier wollen alle einen Blick auf den neuen Wurf aus dem Hause Jaguar werfen.
Dieser ist sehr pink. Barbie würde ihn lieben. Ken würde ihn vielleicht noch mehr lieben. Dafür, dass AutokennerInnen normalerweise nur ein müdes Augenrollen übrig haben für diejenigen, die Autos nach Farbe beurteilen, wird das Barbiepink – von Jaguar offiziell „Miami Pink“ genannt – leidenschaftlich diskutiert. Hypermaskuline Automänner, die beim Anblick zu hyperventilieren begannen, können sich beruhigen – es gibt das Modell auch in Blau, genannt „London Blue“.
Die erste Null im Namen steht für null lokale Emissionen, die zweite für den Status als Auto Null einer komplett neuen Modellfamilie. Die Ecken und Kanten haben in der Tat wenig mit den Rundungen zu tun, die man von Jaguar kennt. Die Raubkatze bleibt aber erhalten: Das Jaguar-Emblem – „Leaper“ genannt – ist in einen handgefertigten Messingblock auf jeder Seite des Fahrzeugs gelasert. „Somit bewegt sich der Leaper ab jetzt nach vorne“, sagt McGovern. Eben so, wie die Marke es tut. Weitere technische Daten gibt’s noch wenige, aber wir sind hier ja auch an einer Kunstmesse. Der Type 00 ist erst ein Concept Car – ein Kunstwerk, eine Vision, deren offizielle Produktion noch in der Zukunft steht. Das Gefährt ist etwa fünf Meter lang und hat einen Elektroantrieb. Jaguar sieht sich in Zukunft nicht nur ausschließlich im obersten Luxussegment, sondern setzt auch voll und ganz auf die Elektroroute. Etwa 770 Kilometer soll der Wagen schaffen; mit 15 Minuten Ladezeit soll man bereits wieder 321 Kilometer auf sicher haben.
Mit dem Slogan „copy nothing“, den bereits Gründer Sir William Lyons proklamierte, sind aber weniger diese Fakten gemeint, sondern nach wie vor das ungewöhnliche Äußere. Auch Gerry McGovern zitiert den Slogan wie ein Mantra. Wie designt man denn ein Auto, ohne etwas zu kopieren? „Manche Brands wollen ihre ursprüngliche DNA replizieren“, erklärt McGovern, „bei uns jedoch ging es mehr um Emotionen, um die Essenz“. Die Jaguars aus der Vergangenheit hätten damals auch als modern und ungewöhnlich gegolten, fügt er an. Also weg mit der Nostalgie und rein in die pinke Zukunft: „In den letzten 20 Jahren wurde zu viel zurückgeblickt“, sagt McGovern.
Die Reaktionen und Kritik hat er natürlich mitbekommen – sie waren auch Teil des Plans. „Kreativität hat immer Kritik mit sich gebracht”, sagt McGovern und zitiert Größen wie David Bowie, Alexander McQueen und Jackson Pollock als Beispiele. Und nun fügt sich eben Gerry McGovern mit seinem pinken Jaguar in die Reihe.

So beliebt wie Marmite
Ein Hauch wirtschaftliches Kalkül muss in der Parade aber doch drinstecken. Man will sich ja aus der drohenden Misere hieven. McGovern, der auch den Range Rover neu designt hat, beschreibt es folgendermaßen: „Die Marke kehrt zu dem zurück, was sie am besten kann: einzigartig sein. Darum ging es in ihrer Blütezeit, doch dann kamen Strategie und Mainstream in den Weg“, fügt er an. Strategie spielt noch immer eine relevante Rolle, doch mit dem Mainstream scheint der Autohersteller abgeschlossen zu haben. „Wir wollen nicht von allen geliebt werden“, betont McGovern. „Es ist ganz einfach: Wir sind wie Marmite“, sagt er und hat damit die perfekte Analogie geschaffen. Der klebrig-salzige Aufstrich wird entweder heiß geliebt oder verabscheut – Reaktionen, die auch der süßpinke, kastige Jaguar aus allen herauskitzelt.
Die Marmite- oder in diesem Fall Jaguar-Lovers müssen sich aber noch etwas gedulden, bis sie sich den Schlitten gönnen können. Laut Brancheninsidern kann es sich Jaguar eigentlich nicht leisten, ein Jahr lang nichts zu verkaufen. Und doch kriegt man den Type 00 erst in einem Jahr in die Garage. Ende 2025 wird der viertürige GT enthüllt, Anfang 2026 kann man darin rumkurven. In einem Zeitalter, in dem unsere Aufmerksamkeitsspanne auf deprimierende acht Sekunden herabgestürzt ist, scheint es waghalsig, erst 2026 mit dem Verkauf zu beginnen. Gerry McGovern nimmt es gelassen: „Es gibt dieses Sprichwort, das besagt, dass man nicht pleite geht, wenn man nicht auf seine Kundschaft hört, sondern wenn man zu sehr auf sie hört.“ Geduld gehört zum Luxusgeschäft, denn auch auf eine Birkin Bag warten manche Kundinnen Jahre. „Die Menschen brauchen keinen Luxus, sie wollen ihn“, sagt McGovern. So passt es auch, dass in den kommenden Monaten neue Brand Stores entstehen werden, wo man die schöne neue Jaguarwelt am eigenen Leib erfahren kann. Der erste davon eröffnet im Herzen des Pariser Luxusmodeviertels, dem „Goldenen Dreieck“ im achten Arrondissement. „Es geht um Emotionen. Wir können ein effizientes, nachhaltiges Auto entwerfen, aber wir wollen mehr als das sein. Wir wollen den Leuten ein ‚Wow‘ entlocken“. Zum Schluss wollen wir wissen, wie McGovern Jaguar nun in drei Worten beschreiben würde. Mit reichlich Ausschweifungen kommt er bei folgenden an: „Brave“, „fearless“, „copy nothing“. Das sind streng genommen vier Worte, aber wir lassen’s gelten.
Jaguar Type 00
Alles neu macht… Jaguar. Neues Logo, neuer Wagen. Elektrisch natürlich, gewagt, modernistisch, pink oder auch blau – das ist der Type 00. Aber erst gibt es eine Pause. Ende 2025 soll das erste echte Modell als viertüriger GT vorgestellt werden und ab 2026 dürfen alle, die gerne auffallen, mit dem pinken Wunder auf den Straßen ordentlich Gas, äh, Elektro, geben.

Gerry McGovern
Man kann das Rad nicht neu erfinden, das Auto hingegen schon. Das tut Gerry McGovern seit vier Dekaden. Die ersten Anläufe nahm er bei Chrysler. Mittlerweile ist McGovern Chief Creative Officer bei Jaguar. Seiner Fantasie entstammen unter anderem der MG F und der Land Rover Freelander – und natürlich der Jaguar Type 00.
Mehr zur pinken Zukunftsvision aus dem Hause Jaguar findest du hier.
Autofans aufgepasst: In St. Moritz düsten einige Gefährte durch den Schnee.
Fotos: © Jaguar