Wir schicken unseren Autor Maximilian Reich regelmäßig an die entlegensten Orte der Welt, um stattdessen den Arsch der Welt zu erforschen. Diesmal: das Okavango-Delta.
Ich hocke auf einem Holzstuhl in dem kleinen Büroraum und gucke auf meinem Smartphone die Nachrichten. Der Präsident von Südafrika verkündet, dass sein Land aufgrund der Corona-Pandemie die Grenzen verriegelt. Die anderen afrikanischen Staaten ebenfalls. Ruanda, Tansania, Namibia – alle zu wie ein Dickdarm nach drei Tellern Reis. Bereits erteilte Visa werden aufgehoben, South African Airways hat alle Flüge nach Europa gestrichen, und in Ruanda ist der Hauptflughafen geschlossen. Ich stecke das Telefon zurück in meine Hosentasche und starre ratlos auf den Fußboden. Scheiße, jetzt sitze ich hier in Botswana fest.
In der Weihnachtsbäckerei
Zwei Wochen zuvor hatte ich noch ganz andere Probleme. In Deutschland hatten sich gerade die ersten Menschen mit dem Corona-Virus infiziert, weshalb ich vorsorglich im Internet einen Jahres-Vorrat an Klopapier bestellt hatte. Ärgerlicherweise war mir beim Bestellvorgang wohl ein Fehler unterlaufen, und nun stapelte sich in meinem Badezimmer Duft-Toilettenpapier, das nach Spekulatius-Plätzchen riecht. Jedesmal wenn ich aufs Klo musste, hatte ich das Gefühl, ich verrichte mein Geschäft in der Weihnachtsbäckerei. Verärgert starrte ich auf meinen Lagerbestand, als mein Telefon klingelte. Patrick Pierazzoli war dran, der Chefredakteur dieser Zeitschrift.
„Max, du musst für uns nach Botswana. Ich will eine Reisegeschichte über das Okavango-Delta.“
„Muss ich? Kann ich nicht Home Office machen wie alle anderen im Moment?“
„Schlecht. Du bist unser Reise-Journalist.“
„Aber nur, weil du mir keinen anderen Job geben willst.“
Tatsächlich hasse ich das Reisen. Im Flugzeug krieg ich Thrombose, im Restaurant Sodbrennen, in der Sonne Sonnenbrand und im Supermarkt Kopfschmerzen, wenn ich angestrengt die Preise in Euro umrechne. Dann steh ich jedes Mal mit meinem Sex-Gesicht vor dem Regal mit der Sonnencreme.
„Wäre dir das Beauty-Ressort lieber?“, fragte mein Chefredakteur. „Ich brauch noch jemanden, der einen neuen Waxing-Trend ausprobiert…“
Die richtige Temperatur
Botswana liegt im Süden von Afrika und war früher eines der ärmsten Länder der Welt, bis hier ein Jahr nach seiner Unabhängigkeit Diamanten entdeckt wurden. Heute ist das Land politisch stabil und weist ein höheres Bruttoinlandsprodukt pro Kopf auf als Südafrika oder Ägypten. Im Norden des Landes befindet sich das Okavango-Delta. Ein riesiges Naturgebiet, das halb so groß ist wie die Schweiz. Der 1’500 Kilometer lange Okavango-Fluss fächert sich hier in einzelne Seitenarme auf wie die Finger an
einer Hand, die schließlich irgendwann im Sand versickern. Dadurch hat sich in der Region ein fruchtbares Ökosystem gebildet, das eine Vielzahl von Tieren anlockt. Hier leben 444 Vogelarten, 64 verschiedene Reptilien und 122 Säugetierarten, darunter Löwen, Nashörner, Elefanten, Zebras und Giraffen. Menschen: 0. Die letzte bewohnte Ortschaft ist Maun, eine kleine Stadt am Rande des Okavango-Deltas. Als unser Flugzeug am Flughafen aufsetzt, müssen alle Passagiere noch sitzenbleiben. Zwei Mitarbeiter der Grenzkontrolle betreten mit Atemschutzmaske und Handschuhen das Flugzeug und messen die Körpertemperatur der Passagiere. Wer einen höheren Wert als 38 Grad hat, muss in Quarantäne. In den Reihen vor mir sitzen etwa zehn Passagiere, und ich frage mich, wie man das wohl vor 30 Jahren gemacht hätte, als meine Mutter mir zum Fiebermessen noch ein Thermometer in den Po steckte. Da ich ganz hinten sitze, fängt die Grenzbeamtin bei mir an. Artig öffne ich meinen Mund: „Aaaahhh“. Die Dame guckt zunächst irritiert. Dann sagt sie unter ihrer Schutzmaske mit strengem Ton: „Sir, schließen Sie Ihren Mund“. Sie hält mir ein Messgerät vor das Gesicht, und verblüfft gucke ich zu, wie sie meine Temperatur mit Hilfe eines Infrarot-Scanners misst. Das Display zeigt an: 37,2 Grad. Ich darf das Land betreten. In der Ankunftshalle tragen die Touristen Atemschutzmasken. Diejenigen, die keine haben, halten sich einfach etwas anderes vors Gesicht. Halstücher, Baseballmützen, Schals, eine Mutter drückt sich das Lätzchen ihres Babys vor Mund und Nase. Die Verkäufer von Selfie-Sticks machen in diesen Tagen bestimmt auch kein gutes Geschäft, denke ich mir und schreite durch die Passkontrolle.
Mutterseelenallein
Das Okavango-Delta ist zu groß, als dass die Reiseanbieter die Touristen vom Flughafen mit dem Auto zu ihrer Lodge fahren könnten. Deshalb fungiert ein Flugzeug als Luft-Taxi. Wobei die kleine Propellermaschine meiner Meinung nach mit einem Flugzeug so viel zu tun hat wie das Kinder-Flugzeug-Karussell auf der Kirmes. Mein Magen plumpst mir in die Knie. Ich fistel nervös mein Smartphone aus der Hosentasche, um ein Video zu machen und tippe dem Piloten auf die Schulter. „Kann ich das Telefon anlassen, wenn ich den Flugmodus einschalte – oder stört das die Elektronik?“ Der Pilot winkt lachend ab. Ganz nach dem Motto: Welche Elektronik? Woraufhin mein Magen gleich noch ein Stückchen absackt. Beim Anflug auf den Flughafen, der lediglich aus einem asphaltierten Streifen mitten in der Wildnis besteht, muss der Pilot zunächst eine Schleife fliegen, um die Antilopen von der Piste zu scheuchen. Erst dann kann unsere Maschine landen.
Am Rand der Landebahn lehnt ein stämmiger Mann gegen einen Geländewagen und wartet schon auf mich. „Hi, ich bin Lesh. Willkommen in Botswana“, sagt er freundlich und hievt meinen Rucksack in seinen Range Rover. Er reicht mir eine Cola, und während ich die kühle Dose gegen meine verschwitzte Stirn halte, steuert Lesh das Auto durch die Wildnis zu meiner Unterkunft. Der Reiseveranstalter Wilderness Safaris war so freundlich mich einzuladen. Wilderness Safaris hat Lodges in sechs verschiedenen Ländern: Botswana, Namibia, Kenia, Ruanda, Simbabwe und Sambia. Davon alleine 22 Camps in Botswana. Die nächsten Tage werde ich im Camp „Chitabe“ verbringen. Eine Lodge, für deren Bau hauptsächlich Holz verwendet wurde und die auf Balken etwa einen halben Meter über dem Boden steht. Der Gemeinschaftsraum ist offen gestaltet, mit gemütlichen Sitzecken und einem freien Blick auf das Okavango-Delta. Die Getränke an der Bar sind inklusive, und auf der Terrasse steht ein Pool. Bloß eine Sache ist merkwürdig: Wo sind die anderen Gäste?
„Die sind alle abgereist“, wie mir die Managerin des Anwesens erzählt. „Die Reiseveranstalter haben alle Kunden nach Hause gerufen, bevor die Länder wegen der Corona-Pandemie ihre Grenzen schließen.“ Ich bin also ganz alleine hier. Und einen Moment überlege ich, ob ich möglicherweise einen Fehler gemacht habe. Wenn man mutter-seelenalleine auf einer Autobahn fährt, kommt man ja auch ins Grübeln, ob das vorhin wirklich eine Abzweigung war. Ich setze mich auf das Sofa in der Lobby, nippe an einem eisgekühlten Amarula-Drink und blicke auf den Sonnenuntergang, der den afrikanischen Busch orange färbt. Zur Not, denke ich mir, werde ich es hier wohl auch ein paar Wochen in „Gefangenschaft“ aushalten, bis die Grenzen wieder offen sind.
Löwen fressen keine Reise-Journalisten
Nach dem Abendessen führt mich Lesh zu meinem Pavillon. Um die Natur zu schützen, wird der Strom für die Lodge aus Solar-Anlagen gewonnen. Außerdem gibt es keine Zäune um das Camp. Die Lodge steht mitten in der Wildnis, ohne eine Schutzmauer zwischen mir und den wilden Tieren. Es könnte durchaus sein, dass mal ein Löwe durch das Camp spaziert.
„Geh deshalb bitte nie alleine auf dein Zimmer, wenn es dunkel ist. Ein Mitarbeiter wird dich begleiten“, sagt Lesh und öffnet die Tür zu meiner Hütte. Ein Zimmer in der Größe einer 2-Zimmer-Wohnung, mit einer Indoor- und einer Außen-Dusche, einem Schreibtisch und einem Himmelbett in der Mitte des Raumes. „Und tagsüber?“, frage ich unsicher nach.
„Da kannst du alleine gehen.“
„Weil die Löwen dann schlafen?“
„Ne, aber da siehst du ihn ja.“
Klar. Wie blöd von mir. Weil ja nur der Überraschungseffekt einen Löwen so gefährlich macht.
„Keine Sorge. Wenn dir in der Nacht irgendetwas Angst macht – dann benutzt du einfach das hier dreimal.“ Lesh deutet auf eine kleine Dose auf dem Nachtkästchen neben dem Bett. Es ist eine Tröte. Super. Jetzt bin ich beruhigt. Ich werde zwar gefressen – aber immerhin verpasse ich dem Löwen vorher noch einen ordentlichen Tinnitus.
„Gute Nacht. Bis morgen“, sagt Lesh fröhlich.
„Leb wohl“, antworte ich kleinlaut.
Das gefährlichste Tier auf dem Kontinent ist allerdings die Mücke. Allein 2018 starben in Afrika 380’700 Menschen an Malaria. Bevor ich schlafe, sprühe ich daher jeden Zentimeter meines Körpers großzügig mit einem Insekten-Spray ein, bis mir von dem Dunst schon ganz schummerig wird. Anschließend ziehe ich mir ein langärmeliges T-Shirt an und schlüpfe in eine Jogginghose aus dicker Baumwolle, die ich zur Sicherheit unten in meine Wollsocken stopfe. So, jetzt kann ich unter die Bettdecke schlüpfen. In der Nacht mache ich kein Auge zu. Ich schwitze wie ein Schwein, und draußen in der Dunkelheit brüllt ein Löwe. Ich bin schon sieben Mal aus dem Bett aufgestanden, um zu kontrollieren, ob die Tür wirklich abgeschlossen ist.
Was interessieren mich die Big Five
Als Lesh mich um 5 Uhr für das Frühstück weckt, bin ich total gerädert. Das Buffet ist opulent gedeckt wie der Frühstückstisch in einer Rosamunde-Pilcher-Schmonzette, aber da mein Magen noch selig schlummert, begnüge ich mich mit einem frisch gepressten Orangensaft und einem Muffin. Zehn Minuten später brechen wir auf zu einer Safari. Unser offener Range Rover holpert durch kniehohes Savannengras, vorbei an Tümpeln und Baobab-Bäumen, während vor uns die Sonne aufgeht. Lesh hält den Wagen an und deutet auf eine Herde Büffel, die keine zehn Meter von uns entfernt grasen. Als die ersten Touristen nach Afrika kamen, waren das überwiegend Jäger. Am
gefährlichsten war für sie die Jagd auf Elefanten, Löwen, Nashörner, Büffel und Leoparden, weil diese Tiere angreifen, wenn man daneben schießt, während die übrigen eher die Flucht ergreifen. Deshalb nannten die Jäger sie „Big Five“. Wer einen von ihnen erlegte, galt als besonders mutig. Im Laufe der Jahre ist so ein gewisser Hype um diese Gruppe entstanden. Jeder Tourist will heutzutage die Big Five sehen. Aber ganz ehrlich: So ein Büffel sieht jetzt nicht viel anders aus als der heimische Ochse. Dafür muss ich nicht nach Afrika fliegen. Plötzlich deutet Lesh nach links, wo ein Löwe gemächlich auf uns zu trottet. Immer näher, und alles, was uns trennt, ist eine Autotür ohne Fenster. „Ähm, du, Lesh? Du hast doch eine Waffe im Auto, oder?“
„Klar.“
„Gut.“ Ich mache einen erleichterten Seufzer.
„Ich hab sogar zwei Waffen.“ Lesh hebt seine dicken Oberarme und spannt die Muskeln an.
„Haha. Witzig“, sage ich gequält.
„Keine Sorge. Die Tiere wachsen mit den Autos auf. Die kennen uns.“
„Du könntest ja trotzdem eine mitnehmen. Nur so, zur Sicherheit. Du musst sie ja nicht benutzen.“ Gott, ich klinge schon wie meine Mutter, wenn ich ohne Jacke aus dem Haus gehe. Mit angehaltenem Atem gucke ich zu, wie der Löwe an uns vorbeigeht, ohne uns auch nur eines Blickes zu würdigen. „Der Löwe wird in den Medien viel brutaler dargestellt, als er ist. Er würde wahrscheinlich eher flüchten, wenn du aus dem Auto steigst. Büffel sind viel gefährlicher“, sagt Lesh und startet den Motor. Ich bin sehr froh, dass ich das erst jetzt erfahre.
„Äh, Lesh? Wo fährst du hin?“, frage ich entsetzt, als ich feststelle, dass wir dem Löwen folgen.
„Lass uns gucken, wo er hingeht. Vielleicht stößt er auf Beute.
Willst du das nicht sehen?“ Vor allem möchte ich verhindern, dass ich die Beute bin.
Als wir in das Camp zurückkehren, möchte ich meine Nachrichten checken. Der einzige Platz, wo es Internet gibt, ist das kleine Büro der Camp-Managerin. Aber selbst das ist so langsam, dass ich mir nicht sicher bin, ob in der Ferne ein Löwe knurrt oder hier irgendwo ein 90er-Jahre-Modem vor sich hin knattert. Ich habe gerade das Video des südafrikanischen Präsidenten zu Ende geguckt, da klingelt mein Telefon. Mein Chefredakteur ruft über WhatsApp an: „Max, du musst sofort nach Hause fliegen.“ „Du weißt auch nicht, was du willst, hm?“
„Max, es ist Ernst. Die Länder haben ihre Grenzen dicht gemacht. Sobald sie auch die Flughäfen schließen, kommst du nicht mehr raus.“ Einer der Bediensteten kommt in
das Zimmer und fragt, ob er mir etwas zu Trinken bringen könnte.
„Einen Amarula bitte.“
„Was?“
Mist. „Ich wollte sagen, du musst dir keine Sorgen machen. Zur Not harre ich hier zwei Monate aus, bis die Krise vorbei ist. Du kannst auf mich zählen, Chef.“
„Und wer zahlt für deinen Luxus-Aufenthalt?“
„Äh, also, ich dachte, ich könnte das als Spesen einreichen…?“
Am anderen Ende der Leitung höre ich ein heiseres Lachen. Dann ist die Verbindung weg.
Neugierig geworden, was unser Autor am Arsch der Welt noch alles erlebt? Begleiten Sie ihn auf Instagram (maximilian_ reich) bei seinen Reisen, und sehen Sie, wohin es ihn als Nächstes verschlägt… falls er dort Internet hat.
Hoteltipp: Die „Chitabe“ Lodge von Wilderness Safaris
Land: Botswana, Ort: Okavango-Delta, Preis pro Nacht: ab CHF 1’062.–, Zimmer: 8,
Aktivitäten: Safari, Wanderung, Helikopterflug
Durchschnittliche Größe der Zimmer: 48 Quadratmeter
Anzahl Löwen im Reservoir: 52, Bisher von Löwen gefressene
Gäste: 0
Weitere Infos: www.wilderness-safaris.com