Maßlose Schönheit, überbordende Lässigkeit, grenzenlos guter Geschmack. Helge Timmerberg wandelt im Flow durch die ewige Stadt ins Ungewisse.
Text: Helge Timmerberg
Fotos: Gerhard Kummer
Die Ungewissheit verfolgt mich durch Rom wie der Schoßhund die Signora, die vor uns geht. Sein Fell ähnelt dem Stoff ihrer Hose in einer Art und Weise, dass man glatt sagen könnte, sie seien im Partnerlook unterwegs. Hat sie die Hose nach dem Hund ausgesucht? Oder den Hund nach der Hose? Oder besteht ihre Hose aus 20 solcher Minihunden, und der Kleine an der Leine ist fällig, wenn sie mal einen Flicken braucht? Hinter uns die Engelsburg, vor uns irgendwas. Ich kenne mich nicht aus. Ich war noch nie in Rom. Benedikt schon. Trotzdem ist er nicht der Papst, sondern mein Freund und jetzt auch mein Führer, denn er war vor 13 Jahren schon mal in der Stadt. Danach stellte er das Reisen ein und blieb in seiner Küche wie in einem Mutterleib zur Miete. Wann immer ich bei ihm saß und von meinen Touren erzählte, gruselte er sich. Und wieder diese Ungewissheit. Wo wird das enden? Wohin führt Benedikt mich.
Wenn einer, der Rom noch nie gesehen hat, einem folgt, der wenigstens schon einmal da gewesen ist, wenn auch vor vielen, vielen Jahren, dann ist das nicht dasselbe wie ein Blinder, der einem Blinden hinterherläuft. Benedikt verknüpft seine Erinnerungen mit dem Fluss der Gegenwart. Damit ist nicht mehr der Tiber gemeint, denn über den müssen wir langsam mal rüber sein, nein, der Fluss des Benedikt wird unter Reisenden „the flow“ genannt. Er fließt zwar überall, aber man ist nicht immer drin. Auch das ist nicht schlimm, wenn man ein Hotelzimmer reserviert hat. Nur die Kombination aus kein Hotel und kein Flow führt in Rom mit Sicherheit in die Scheiße. Ich rede von gestern. Heute wandeln wir nur noch in Schönheit. Die Gassen des Viertels nehmen uns wie ein begehbares Gemälde auf. Ich bin ein Wanderer und wanderte durch viele Gassen des Okzidents und auch durch viele des Orients, aber worüber ich in Rom gehe, ist, wie es Benedikt so trefflich formuliert, „die Mutter aller Kopfsteinpflaster“. Meine Füße kommen nach Hause, meine Augen werden zu zwei Maden im ewigen Speck. Jede Ecke ein Gedicht, jede Seitengasse eine Verführung, jeder Brunnen, jede Treppe, jeder Torbogen, jedes Fenster erzählt von 1’000 Generationen des Dolce Vita, aber auch von Kreuzigungen, Sklaven und der Pest. Ob die Ratten zu ihren unterirdischen Wegen eine ähnlich romantische Beziehung pflegen?
Auch beeindruckt mich, wie hier der Efeu wächst. Bisher kannte ich ihn als recht filigrane Bio-Alternative zum Putz der Außenmauern, aber in Rom sind es Efeuwälder, die die Fassaden bedecken. Maßlose Schönheit, überbordende Lässigkeit, grenzenlos guter Geschmack. Die Italiener sind die Weltmeister darin. Aber warum nur? Weil sie alle Künstlerseelen in ihrer Brust herumtragen? Oder weil sie kein Geld haben? Beschützt ihre ewige Wirtschaftskrise sie vor den Abscheulichkeiten der stadtbaulichen Moderne? Selbst die Verkehrsschilder sind in Rom den Verwitterungen angepasst. Das alles ist fabelhaft und lässt sich vielleicht sogar noch steigern. Wir reden nicht darüber, aber ich weiß, dass Benedikt sich quasi synchron darüber Gedanken macht, ob wir heute noch einen Joint zwischen die Lippen kriegen oder nicht. Und ob das wirklich sein muss? Gestern musste es sein. Voll verwanzt und abgezockt im Bahnhofsviertel empfingen wir das winzige Stück Haschisch aus Migrantenhand mehr oder weniger wie einen göttlichen Gnadenakt. Inzwischen hat sich der Wind gedreht. Der Blues ist verweht. Rom wird zum Hochgenuss. Den noch steigern zu wollen, erfüllt den Tat-bestand der Gier, das ist klar. Und Gier führt aus dem Flow, das ist auch klar. Wäre Benedikt allein gewesen, hätte er sich anders entschieden. Ich mich auch ohne ihn. Worüber ich rede, ist der Fluch der Co-Sucht. Warum ist sie stärker als die Co-Nüchternheit? Ich sagte es ja schon, die Ungewissheit ist mein Thema in Rom. Ist sie auch stärker als die Co-Meditation? Sie wäre die einzige Alternative, weil Alkohol unser beider Ding nicht mehr ist. Bei Benedikt schon seit Jahrzehnten, bei mir erst seit einem halben Jahr. Unterm Strich vergegenwärtigen wir dasselbe Ergebnis. Wir mögen den katholischen Rausch nicht mehr. Deshalb können und wollen wir nicht, wie alle anderen hier, von einem Glas Wein zum nächsten durch den Abend und die Nacht flanieren. Wir sehen weder Sinn noch Reiz darin, die Sensibilität zu verlieren. Darum kiffen wir und trinken nicht, wenn uns nach einer Steigerung des Wahren, Schönen, Guten ist. Wer das nicht versteht, weil er das Kiffen hasst und das Trinken liebt, möge bedenken, bevor er uns verurteilt, wie er es finden würde, durch eine samtweiche römische Nacht spazieren zu gehen, in der seine Lieblingsdroge verboten wäre. Kein Wein, kein Bier, kein Amaretto, Ramazzotti, Averna und Galliano gäbe es mehr in den Gassen von Rom, auch kein Montenegro Amaro und Martini Bianco, kein Whiskey, Wodka und Rum – nicht mal Eierlikör-Pralinen. In keiner Bar, keinem Café, keinem Restaurant, keinem Geschäft, keinem Kiosk, keinem Supermarkt und keiner Tankstelle dieser Stadt würde Alkohol verkauft. Den gibt es nur auf der dunklen Seite des Mondes am Hauptbahnhof. Und? Was würden Sie dann tun? Nüchtern bleiben oder beherzt ein Taxi zum Rom Termini nehmen, um in den unbeleuchteten Grünflächen in seiner Nähe nach illegalen Alkoholdealern zu suchen? Überlegen Sie sich Ihre Antwort bitte genau. Wenn es gut geht, haben Sie endlich was zu trinken. Wenn es schief läuft, kriegen Sie Ärger mit den Carabinieri. Aber nur, wenn die nicht mehr als eine halbe Flasche Wein finden. Haben Sie eine ganze Flasche dabei oder gar zwei, kriegen Sie richtig Ärger mit ihnen. Geldstrafen ab 2’000 Euro aufwärts oder Gefängnis von sechs Monaten bis zu sechs Jahren.
Der völlig durchgeknallte frühere italienische Ministerpräsident Berlusconi hatte das Strafmaß für Verstöße gegen das Alkoholverbot mal kurzerhand verdreifacht, doch die neue Regierung nahm den Wahnsinn auf Druck der EU wieder auf das alte Maß zurück. Natürlich geht es meistens gut und selten schlecht, Ihre Chancen unbehelligt mit dem illegalen Alkohol wieder in die samtweiche Nacht der Altstadt-Gassen zurückzukehren, sind höher als 80 Prozent. Doch das Restrisiko bleibt eminent. Sechs Monate oder sechs Jahre in einem komplett überfüllten römischen Gefängnis ist was substanziell anderes als Urlaub in Italien. Eine scheußliche Vision. Aber doch nur ein böser Traum. Wenn wir auf-wachen, werden wir die Wahrheit sehen. In Wahrheit wird in der heiligen Stadt noch immer legal und fröhlich mehr Wein als Wasser getrunken, nur die Kiffer haben die Arschkarte gezogen. Sie sind bei der Beschaffung ihrer Genuss-droge exakt in der gerade skizzierten, beschissenen Situation.
Als wir vom Bahnhof zurückkamen, hatten wir Vertrauen gesät und Misstrauen geerntet und praktisch keinen warmherzigen Menschen dabei getroffen. Statt Haschisch legte man Heroin in Benedikts Hand, dass er empört zu Boden warf, und als wir dann doch noch bekamen, was wir wollten, sind wir dem Zugriff einer Zivilstreife nur haarscharf entkommen. Das nennt man nicht Flow, das ist Stress, und die Frage ist, ob es sich gelohnt hat. Wir stellen sie uns, während wir auf einer Bank direkt vor unserem neuen Hotel sitzen, und beantworten sie beide mit „nein“, weil sich so etwas schon prinzipiell spirituell nicht lohnen kann. Und sind trotzdem beide heilfroh, dass wir das Haschisch haben. Obwohl wir es noch immer nicht brauchen. Wir haben nur keine Angst mehr davor, es zu brauchen. Gleich, demnächst oder etwas später. Und bis dahin reicht es uns noch immer, in Rom einfach nur an einer der größeren Straßen unseres mittlerweile geliebten Altstadtviertels zu sitzen und auf den Fluss des Lebens zu schauen. Mittlerweile ist es schon hübsch nach Mitternacht, was diesen Fluss ein wenig dünner macht. Nur drei Polizei-Mannschaftswagen jagen mit Blaulicht und Sirenen von links nach rechts an uns vorbei. Benedikt betrübt an diesem Anblick zweierlei. Erstens, dass er glaubt, immer noch ein bisschen cooler als cool aus der Wäsche blicken zu müssen, sobald die Polizei auftaucht, und zweitens könnte es vielleicht doch auch sein, dass sie mit ihrem Affenzahn auf dem Weg zum Bahnhof sind.
„Ja, Benedikt, das ist möglich. Ich habe mich sowieso gewundert, dass heute am Termini überhaupt keine uniformierte Polizei zu sehen war. Gestern waren sie massiv da. Aber gestern war auch Samstag. Heute ist Sonntag. Da haben italienische Polizisten frei. Oder machen irgendwo auf halblang. Fakt ist, es waren keine da außer den beiden in Zivil, denen wir uns gerade noch entzogen hatten, und vielleicht haben diese beiden unseren Dealern Stress gemacht, und die stressten zurück. Wie viele waren es? Zehn oder zwölf zornige schwarze Männer aus Nigeria und Zaire gegen zwei Zivilbullen, und das, was hier eben vorbeirauschte, war die angeforderte Verstärkung. Das kann durchaus sein, Benedikt, aber es kann auch nicht sein. Es ist ungewiss.“
„Aber wenn es so ist und die Afrikaner jetzt was auf die Köpfe kriegen, dann haben wir heute Nacht schlechtes Karma auf uns geladen. Ohne uns wäre das nicht passiert. Unsere Entscheidung, zum Hauptbahnhof zu fahren, war der erste Dominostein, der fiel.“
„Nein, absolut nein. Schlechtes Karma hätte in diesem Fall einzig und allein die völlig beknackte italienische Drogenpolitik.“
Benedikt sieht das ein. 30 oder auch 40 Minuten später gehen wir wieder auf den alten Gassen. Sie sind fast menschenverlassen. Hin und wieder begegnet uns wer, aber im Prinzip sind sie leer. Und wir sind breit. Ich versuche den Unterschied zu fassen. Wie schön war Rom vorher, und wie schön ist Rom jetzt? Abge-sehen davon, dass die Stille um diese Zeit der Schönheit einen Hauch mehr Ewigkeit verleiht, ist nicht viel passiert. Außer meinem wackeligen Schritt vielleicht. „Auch Abhängigkeit kann Einbildung sein“, sage ich zu Benedikt. Mit diesem Gedanken gehe ich zu Bett und schlafe endlich ein.
Mein erster Gedanke am Morgen hat dann auch wieder mit Abhängigkeiten zu tun. Und mit der Befreiung davon. Kaum bin ich aufgewacht, fällt mir mein Bauch ein. Er ist zu dick für meine Statur. Viel zu dick, um ehrlich zu sein. Von der Seite gesehen und ohne Kopf seh ich aus wie Karl Valentin. Ein dünnes Männchen mit Pastabirne. Würde ich mich als Frau verkleiden, käme ich damit als Hochschwangere durch. Aber ich hätte nichts davon, denn so bekäme ich auch keine Frau ins Bett. Das war früher anders. Erst seitdem sich meine Hormone auf 60 plus umstellten, baute der Körper die Pasta nicht mehr ab. Dazu kommt eine Eigenwilligkeit der Natur, die verhindert, dass sich das Fett gleichmäßig in mir verteilt. Ich bin groß genug, es gäbe viel Platz dafür. Aber nein, Gesicht, Hals, Brust, Po und Beine bleiben schlank wie eh und je, nur die Mitte polstert aus. Um diese Entwicklung zurückzudrehen, hatte ich mir in den letzten Jahren einiges angetan. Sport, Diät, Fasten – Joghurt und kein Alkohol. Der befreiende Gedanke an meinem zweiten römischen Morgen in Rom empfiehlt mir, das nun nicht mehr länger mitzumachen und stattdessen ab sofort mein Sexleben zu kommerzialisieren. Benedikt reagiert nicht wenig schockiert, als ich ihm beim Frühstück davon berichte. Wir nehmen es nicht im Hotel, sondern ein paar Ecken weiter an einem der beiden Außentische einer kleinen Café-Bar ein. Die Gasse, die in der Nacht wie ausgestorben schien, ist wieder voll mit Menschen, Touristen, Nonnen. Grad jetzt gehen drei Schwestern in ihrer Tracht an uns vorbei. „Aber warum denn“, fragt Benedikt? „Das brauchst DU doch nicht. DU bist ein erfolgreicher Schriftsteller. Mit denen geht doch jede ins Bett. Na ja, vielleicht nicht jede, nur die Besten.“
„Das stimmt, Benedikt, wir haben im Ranking der Traum-Affären mit den Rockstars gleichgezogen. Aber ich mag einfach nicht diesen Blick, den sie haben, wenn der Schriftsteller plötzlich nackt vor ihnen steht. Weil sie, wie du richtig sagtest, die Besten sind, versuchen sie das ästhetische Entsetzen in ihren Augen zu verschleiern, aber dann brechen sich die Ekelschauer totsicher woanders bahn. In den Mundwinkeln zum Beispiel. Bescheuerte Weiber. Was glauben die? Dass ich sie mit dem Bauch ficke?“
Benedikt wirft sich weg vor Lachen, auch die blonde oder erblondete Besitzerin der Bar steht in der Tür und lacht, entweder weil sie Deutsch versteht, oder weil Lachen ansteckend ist. Und der schwarze Straßenverkäufer, der ein paar Meter weiter angebliche Adidas-Taschen auf dem Kopfsteinpflaster ausgebreitet hat, lacht auch.
„Und bei Huren siehst du diesen Blick und die Entgleisung der Mundwinkel nicht?“
„Natürlich nicht. Huren interessiert nicht der Schriftsteller Bauch. Die sehen nur des Schriftstellers Geld. Das stimmt allerdings nur für die guten. Und wenn du wissen willst, was für mich eine gute Hure ist: Sie ist jung, schön, scharf, schlau, humorbeseelt und billig. Und sie muss zuhälterfrei sein. Das ist wichtig! Und damit habe ich jetzt ein neues Problem. Eine gute Hure findet man so selten wie eine gute Frau.“
Auch der Aufbruch in die Freiheit gestaltet sich also ungewiss. Ich sagte es ja schon. Sie ist mein Thema in Rom. Das Gute an der Ungewissheit ist, das durch sie eine Erkenntnis nicht zum Dogma werden kann. Dogmas sind zu statisch für den Erkenntnisprozess. Es muss immer weiter gehen, auch mit uns. Wir sitzen schon über eine Stunde vor diesem kleinen Café und schütten uns mit Cappuccino zu. Und wir haben nur noch sieben Stunden für Rom. Um 19 Uhr sollten wir spätestens am Bahnhof sein, und um 19.30 Uhr spätestens in einem Zug zum Flughafen. Was macht man in sieben Stunden aus Rom? Sich sieben Weltwunder anschauen. Das Kolosseum der Gladiatoren, den Petersdom der Päpste, die Thermen des römischen Reichs? Oder doch nur unverbindlich ein paar Gassen weiter ziehen bis zum nächsten Café, vor dem man dann noch ein paar Stunden mehr die Zeit vergisst. Obwohl ich in dieser Nacht ungestört geschlafen habe, bin ich noch immer ein wenig müde. Und konfliktfrei. Das heißt, ich mag mich grad, so wie ich bin. Und wo ich bin, mag ich auch. Mich treibt nichts voran. Außerdem glaube ich an Mathematik. Wenn ich an einem Platz sieben Mal länger verbleibe als an jedem der möglichen anderen sieben Sehenswürdigkeiten, bleibt die Summe des Gesehenen in beiden Fällen gleich.
Der Platz, an dem wir so kurz nach unserem Frühstück landen, ist ein urbanes Schatzkästchen. „Piazza del Fico“. Ein kleines, fast verstecktes Viereck, mit wenig Geschäften und nur einem Café, vor dem Männer Schach spielen. Sie tun das stundenlang. Ihr Brett liegt auf einer Kiste, sie sitzen auf Klappstühlen. Als wir kamen, gab es noch genau zwei freie Stühle, aber sie waren zusammengeklappt, und es war nicht ganz ersichtlich, ob sie zu dem Lokal gehörten oder zu den Spielern, denn es standen auch keine Caféhaus-Tische draußen, und niemand wurde bedient. Wir zögerten deshalb eine Weile, sie uns zu schnappen, doch als einer der Männer unsere begehrlichen Blicke bemerkte, bot er uns die Stühle an. Seitdem sitzen wir bei ihnen, mit dem Rücken an die Außenwand des Cafés gelehnt und den Gesichtern in der Sonne, die man wie Orangensaft trinken kann. Das ist alles. Wir spielen weder mit, noch konsumieren wir etwas aus dem Café. Ich checke nicht meine E-Mails und lese auch nicht Dorian Grey, obwohl ich das Buch für genau diese Momente mit nach Rom genommen habe. Oscar Wilde ist großartig in seiner Anbetung der Schönheit, aber wofür brauche ich einen Roman in einer so romanhaften Umgebung mit so authentischen Protagonisten, in deren Gesichtern ich übrigens ebenfalls nicht lese, weil ich dafür noch immer – oder schon wieder – zu müde bin. Ich nehme sie einfach nur wahr wie den Schatten des Baumes, unter dem sie spielen, und den Vögeln darin. Fast möchte ich sagen, ich schaue auf die Männer hier, wie auf einen Teil von mir. Das kann man natürlich auch umgekehrt formulieren. Ich werde zu einem Teil von ihnen, oder, weil ich so bewegungslos bin, zu einem Requisit dieses kleinen Platzes, der auf mich mehr und mehr wie eine Bühne wirkt. Das Theater des Lebens in Rom. Es wird Speed-Schach gespielt, also mit Stoppuhren. Der beste unter ihnen ist ein Mann in meinem Alter mit einem silbernen Zehntagebart und halblangem silbergrauen Haar. Er trägt einen weißen Leinenanzug mit Weste, der aussieht, als würde er nie etwas anderes anziehen. Die Textilie wirft so viele Falten wie sein Gesicht, und das wiederum ist so malerisch verwittert wie die uns umgebenden Hausfassaden. Ein Künstler? Ein Professor? Ein Privatier? Auf jeden Fall ein alt eingesessener wie alle hier. Über diesem kleinen Platz liegt die selbstverständliche Ruhe der Lokalmatadore. Öffentlich, aber so privat wie ein ausgelagertes Wohnzimmer. Eigentlich müsste ich sie fragen, ob ich wirklich darin willkommen bin, aber was mache ich, wenn sie nein sagen? Auch das ist ungewiss.
Nichts ist, wie es scheint, und nichts scheint, wie es ist. Wir erreichen den Flughafen nicht nur pünktlich, sondern auch in angenehmer Gesellschaft, denn im Zug setzte sich eine unterhaltsame Frau auf den freien Platz neben mir, und der Klassiker der intensiven, aber unverbindlichen Reisebekanntschaft nahm seinen Lauf. Vor dem Check-In passiert dann Folgendes. Wir sind lustig, und das steckt ein Paar, das vor uns steht, an. Sie drehen sich um und scherzen mit uns. Beide sind Mitte 20. Sie ist hübsch und blond, er ein bisschen stämmig. Plötzlich macht die Airline einen zweiten Schalter auf, und ich kriege das als Erster mit. Ich gehe sofort zu ihm und nenne mein Ziel. Aber sie checken hier nicht ein für Wien, sondern für Berlin. „Wer will denn nach Berlin“, rufe ich, nicht im Tonfall einer Frage, sondern einer Beschimp-fung, und unsere neue Freundin aus dem Zug macht gleich mit. „Ja, genau“, sagt sie, „ich bestimmt nicht.“ Das inspiriert mich zu weiteren Schmähungen. „Die Stadt ist scheiße, die Menschen sind hässlich und die Taxifahrer alle Kommunisten.“ Das war ein Scherz, aber als dem Paar, das gerade noch mit uns ein bisschen fröhlich war, die Gesichtszüge entgleisen, weiß ich nicht mehr, ob der wirklich so lustig war, und nachdem sie sich vor dem Schalter nach Berlin angestellt haben, ist die Sache klar. Ich habe gerade zwei nette Menschen schwer beleidigt. Natürlich wollte ich das nicht, und es tut mir leid, aber das Kind ist im Brunnen. Meine Versuche, mit ihnen Augenkontakt aufzunehmen, als sie ihre Bordkarte haben und sich umdrehen, scheitern kläglich. Mit steinerner Miene sehen sie an mir vorbei.
Ein bisschen später stehe ich vor dem Flughafen, um noch eine Zigarette zu rauchen. Der Abendhimmel ist von diesem tiefen, fast violetten Blau, das jederzeit in Nachtschwärze umschlagen kann. Ich fühle mich wie ein Arsch und frage mich, wie so etwas passieren kann. Nach so einem Tag? Nach so viel Schönheit? Nach so vielen Geschenken? Wie kann man danach nur so unaufmerksam sein? Denn mehr war es ja nicht. So oberflächlich? So laut und daneben? Kleine Sünden werden sofort bestraft. Heute Abend, heute Nacht und vielleicht auch noch morgen und übermorgen werden zwei nette Menschen mit Sicherheit schlecht über mich reden. Ich kann es jetzt schon irgendwie hören. Und das bedrückt mich. Aber ich brauche meine Gedanken nur ein wenig weiter in den violetten Himmel zu schicken, und schon wird auch das wieder ungewiss. Vielleicht habe ich ihnen ja auch einen Gefallen damit getan, denn solange sie schlecht über einen anderen reden, brauchen sie ihre eigenen Schlechtigkeiten nicht zu thematisieren. Vielleicht geht es ihnen jetzt sogar besser als vorher. Und sie lieben sich noch mehr. Nichts schweißt Menschen inniger zusammen als ein gemeinsamer Feind. Denn wer Feinde hat, braucht sich nicht selbst zu zerstören. Ich werfe die Zigarette weg und vergebe mir. Halt. Auch das stimmt nicht mehr. Selbst für das Schuldgefühl wird es hart, wenn das Böse gerade Gutes tat. Ciao Roma, es war super hier. Und bleib so wie du bist, damit wenigstens etwas ewig ist.